Die verschwundene Lady (German Edition)
seines Herrn schien ihm nahezugehen.
»Gibt es noch einen Lord. Henry im Schloss ?«, fragte Anne.
»Natürlich nicht«, ranzte der Gärtner. »Nur der älteste Sohn und Erbfolger erhält jeweils den Erstnamen Henry. Der verstorbene Herr hinterließ keinen Erben. Haben Sie sonst noch F ragen?«
»Ja.« Anne zog ein Foto ihrer Mutter aus der Handtasche. »Kennen Sie diese Frau? Ist sie jemals im Schloss gewesen?«
Der Gärtner warf einen gleichgültigen Blick darauf.
»Nein.«
Damit warf er Anne die Tür vor der Nase zu. Sogar der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Zunächst war Anne sprachlos über diese Unverschämtheit. Sie war es nicht gewöhnt, so behandelt zu werden.
Dann hämmerte sie mit dem Klopfer gegen die Tür, dass es nur so dröhnte. Doch der grobe Bursche drinnen reagierte nicht anders als ein Rindvieh, das ins Ho rn gekniffen wurde, nämlich gar nicht. Anne resignierte schließlich.
Sie nahm ihre Reisetasche und das Köfferchen, ging vom Tor weg und auf einem Pfad durch den Wald um das Schloss herum. Auf diese Weise fand sie zwar eine Seitenpforte, doch dieses Gittertor war verschlossen. Hinter ihm führten bemooste Stufen empor, an einem flachen Anbau vorbei, im dem sich ein Gewächshaus oder ähnliches befinden mochte, zum Schloss .
Die Umgehung des Schlosses war eine ziemliche Kletterpartie gewesen. Anne atmete heftig. Sie sagte sich, dass es keinen Zweck hätte, weiter ums Schloss herumzuschleichen. Vernünftiger würde sein, sich in Walton - on - Thames nach Kensington-Castle und seinen Bewohnern zu erkundigen. Unter anderem auch nach dem Mann, der den Rolls - Royce gefahren hatte.
D ie Geschichte wurde immer mysteriöser. Peter Stanwell hatte Anne nichts davon gesagt, dass der Lord Kensington neulich verstorben sein sollte. Das hätte der Anwalt aber wissen müssen. Die Medizinstudentin kehrte zum Weg zurück. Sie hatte das Gefühl, vom Schloss aus beobachtet zu werden.
Doch als sie zurückschaute, war niemand zu sehen. Abweisend und fremd erschienen die von schiefergedeckten Dächern, Vorsprüngen und Türmen gekrönten Mauern, über denen hoch oben die Wolken dahinzogen. Die Mauern von Kensington Castle bargen manches Geheimnis.
Anne ging den Weg hinunter und die Strecke nach Walton zurück, die sie gerade erst heraufgestiegen war. Unterwegs hatte sie genug Zeit, sich ihr weiteres Vorgehen zu überlegen. Am besten erschien es ihr, sich als eine Reporterin auszugeben, die eine Artikelserie über den englischen Hochadel schreiben wollte.
An Geschichten aus Adelskreisen war die Leserscha f t immer interessiert. Und es gab viele Leute, die einer Journalistin diesbezüglich nur zu gern Informationen lieferten. Zwar hatte Anne keinen Presseausweis, doch das sah sie als nicht so gravierend an. Sie konnte behaupten, ihn verlegt zu haben, und wahrscheinlich würde man sie in vielen Fällen überhaupt nicht danach fragen.
In Walton angelangt, fuhr Anne noch ein Stück mit dem Bus zur Uferpromenade. Dort quartierte sie sich in einem Hotel ein. Beim Eintragen an der Rezeption sah Anne eine ältere Frau in der Halle, die sie für die Hotelbesitzerin hielt, so wie sie umherging, einem Pagen Anweisungen gab und die welken Blätter der Pflanzen am Fenster abzupfte. Anne sprach diese Frau an.
»Entschuldigen Sie, mein Name ist Anne Carmichael. Sie sind die Chefin hier?«
»Eileen Cooper, jawohl. Was kann ich für Sie tun, Miss Carmichael?«
»Wissen Sie, ich schreibe für >Woman's weekly<.« Das war eine wöchentlich erscheinende, auflagenstarke Frauenzeitschrift. »Im Moment verfasse ich eine Reportage über Englands alte Adel s familien. Jetzt sind die Kensingtons dran. Zu schade, dass Lord Henry neulich verstorben ist.«
Die Hotelbesitzer in , eine Dame mit kurzgeschnittenem, grauen Haar, im dunklen Cocktailkleid mit einer Brosche am dezenten schmalen Ausschnitt, schaute Anne verblüfft an.
»Unser Sir Henry? Wer hat Ihnen denn den Unsinn erzählt? Davon müsste ich doch etwas wissen. Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, ich bin beim Schloss gewesen. Der Gärtner sagte mir das, ein grobschlächtiger, finsterer Bursche.«
»Das war Wallace Hampton. Er ist geistig zurückgeblieben. Da muss er wohl gerade seinen Tick gehabt haben. Er dient im Schloss wie Sie schon richtig beurteilten für die Gartenpflege und als Mädchen für alles. Daran, dass Henry Lord Kensington gestorben sei, ist natürlich kein Wort wahr. Seine Lordschaft befindet sich viel auf Reisen. Er fühlt sich nicht wohl auf
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