Die verschwundene Lady (German Edition)
ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Meine Mutter mütterlicherseits heiratete dann wieder einen Carmichael, jedoch nicht aus Oxford.«
»Ach, so hängt das also zusammen.« Professor Dr. Dr. Trelawney merkte nicht, dass Anne ihn verulkte. Er war ein typischer Wissenschaftler, der ganz in seiner Fachwelt lebte. Einen falschen Helmbusch auf einem Gemälde mit einer Szenerie aus der Zeit Cromwells oder eine minimale Abweichung in einem dargestellten Wappen hätte er sofort bemerkt. Ob er hingegen bei Rot oder bei Grün über die Straße ging, damit hatte er seine Probleme. » Wusste ich es doch. Meinen geschulten physiognomischen Blick kann man nicht täuschen. In Ihren Adern fließt Oxford-Carmichael-Blut. Mit den Oxford - C armichaels unterhalten Sie keine Verbindungen?«
»Mit einer Sippe, die einen so ruchlosen Verführer wie den meiner Frau Großmutter hervorbrachte? Niemals! Hat jener Jonathan Carmichael aus der Zeit Cromwells auch solche Unsitten an den Tag gelegt?«
»Man sagt ihm mindestens drei uneheliche Kinder mit verschiedenen Mägden nach.«
»Sehen Sie, Herr Professor. Nein, mit diesen Carmichaels wollen wir nichts zu schaffen haben. Wir sind ehrbare Träger dieses Namens. Doch nun wieder zu unserem Wappen.«
»Ja, nun, hrm, grm.«
Professor Trelawney betrachtete Annes Skizze. Die Studentin war eine talentierte Zeichnerin. Der Heraldik - Gelehrte hielt sich die Skizze so nahe vor die Augen, dass seine Nase sie fast berührte.
»Ein fünfkralliger Greif. Das hilft mir enorm weiter. Standen auf dem Spruchband ein, zwei oder mehrere Wörter?«
»Zwei, würde ich sagen. Ziemlich gleichlang und verschnörkelt.«
Anne versuchte, die Schrift zu deuten, indem sie Linien in die Luft malte. Professor Trelawney geriet in einen Feuereifer.
»Helfen Sie mir !«, forderte er Anne auf.
Sie holten Folianten von den Regalen und türmten sie auf dem Tisch unter der Leselampe auf. Professor Trelawney grub sich regelrecht durch die Bücher, deren vergilbte Seiten raschelten. In dem großen Raum roch es muffig nach altem Papier. Man glaubte die Bücherwürmer nagen zu hören. Die Zeit war hier stehengeblieben. Das zwanzigste Jahrhundert klopfte vergebens an die Pforten der Heraldik - Abteilung.
Anne sah in den Büchern alle möglichen Greife: Solche mit Löwen-und Stierhäupte rn , ein und zwei Köpfen. Welche mit Schwertern, Reichsäpfeln und anderen Symbolen. Ein Greif trug gar eine Jungfrau davon, wie der Professor erläuterte.
Anne verkniff sich die Frage, wie er wissen konnte, dass es sich um eine Jungfrau handelte. Sie hätte den Wissenscha ftl er verdrossen. Vielleicht war es ja Greifensitte gewesen, speziell Jungfrauen zu rauben, und die Greifen hatten dafür ein besonderes Gespür besessen.
»Könnte er das sein ?«, fragte Professor Trelawney. »Der Greif der Baronets Kensington, nachmalig zu Earls und Lords erhoben? Der Kensington-Greif, fünfkrallig und zweifach geschwänzt, mit dem Familienmotto: Nihil f u git - Fürchtet nichts! - auf dem Spruchband? Das stolze Schloss der Ke nsingtons in Walton-on-Thames ist dreimal von Feinden zerstört und wieder aufgebaut worden. Edward, damals noch Earl of Kensington, war ein Recke der Maria Stuart. Er starb für seine Herrin bei dem vergeblichen Versuch, sie aus der Haft Elisabeth Tudors zu befreien. Danach blieben die Kensingtons eine Weile in Ungnade, doch das edle Geschlecht kämpfte sich wieder empor. In der englischen Kolonialgeschichte haben die Kensingtons eine bedeutende Rolle gespielt.«
Professor Trelawneys Wortschwall rauschte an Annes Ohr vorbei. Sie betrachtete das in dem Buch in bunter Pracht prangende Wappen. Das war es. Annes Herz schlug schneller. Sie hatte das richtige Wappen gefunden, und das Schloss der Kensingtons stand in der Nähe von London. Walton-on-Thames war eine Kleinstadt.
Anne war schon ein paar Mal durchgefahren, ohne ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
»Tausend Dank, Herr Professor. Sie haben mir sehr geholfen. Können Sie mir vielleicht auch noch sagen, ob der jetzige Lord Kensington mit Vornamen Henry heißt, oder ob es einen Henry in dieser Familie gibt?«
»Heute ?«, fragte Trelawney.
»Ja.«
»Das wird schwierig, meine Liebe. Wenn er schon seit vierhundert Jahren tot wäre oder wenigstens im vorigen Jahrhundert gelebt hätte, ja, dann wüsste ich sofort, wo ich nachschlagen kann. Doch über den heutigen Adel bin ich nun wirklich nicht informiert. Damit sollen sich meine Nachfolger in ein paar hundert Jahren
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