Die verschwundene Lady (German Edition)
Ritterrüstungen an der holzgetäfelten Wand und einem riesigen, von der Decke hängenden Leuchter nach rechts in einen Empfangssalon. Ein Audienzzimmer, hätte man früher gesagt.
»Gedulden Sie sich einen Moment, Lord Henry gibt sich in Kürze die Ehre.«
Was für ein unmöglicher Mensch, und was für eine aufgeblasene Sprache, dachte Anne. Der Butler verschwand durch die in die Wand eingelassene Tür. Das Zimmer war geschmackvoll, jedoch noch relativ einfach eingerichtet. Stanwell schaute sich ein Landschaftsgemälde an. Der Anwalt hatte die Mütze abgenommen und unter den Arm geklemmt.
»Das ist ein echter Turner«, sagte er. »Unter Brüdern zwanzigtausend Pfund wert.«
»Eher dreißig, von dem ideellen Wert einmal abgesehen«, sagte da eine sonore Männerstimme. »Joseph Turner hat es 1843 gemalt, als er zu Gast im Schloss weilte, und meinem Vorfahr Lord Mortimer geschenkt. Ich würde dieses Bild erst verkaufen, wenn ich am Verhungern wäre. Alles, was ich besitze, ist nur geborgt, und ich bewahre es für die kommenden Generationen. «
Auch Anne hatte das Bild betrachtet. Jetzt drehte sie sich um. Es verschlug ihr den Atem, und ihr Herz klopfte wie rasend. Vor ihr stand der beeindruckendste Mann, den sie jemals gesehen hatte. Lord Henry Kensington maß mindestens E insfünfundachtzig. Er trug einen Anzug in gedecktem Braun und mit sportlichem Schnitt. Keine Krawatte. Er war breitschultrig und hatte braunes, kurzgeschnittenes, lockiges Haar und ein markantes Gesicht.
Lord Henry sah gut aus, ohne auf die weichliche Art hübsch zu wirken wie manche Schauspieler. Er hatte graue Augen und lächelte etwas melancholisch. Auf den zweiten Blick sah Anne, dass er an den Schläfen schon vereinzelte graue Haare hatte. Seine Hände wirkten kräftig und trotzdem sensibel. An seiner Rechten prangte der Siegelring mit dem Kensingtongreif und dem Familienmotto: Nihil fugit.
Fürchte nichts. Lady Kitty hatte den Lord zweifellos Furcht Und den tiefen Kummer gelehrt. Lord Henry verbeugte sich leicht aus der Hüfte. Er stellte sich höflich vor, obwohl man wusste , wer er war.»Was kann ich für Sie tun ?«, fragte er und schaute Anne an. »So hübschen Besuch hatten wir schon lange nicht mehr.«
Anne musterte ihn. Der Figur nach konnte er der Mann gewesen sein, den sie mit ihrer Mutter zusammen am Regent’s Park gesehen hatte. Auch das Profil konnte stimmen. Um den Mann genau zu erkennen, war es zu neblig und düster gewesen.
»Sagt Ihnen mein Name nichts ?«, fragte Anne. »Anne Carmichael.«
»Nicht, dass ich wüsste .« Lord Henry lächelte amüsiert. »Das ist zweifellos eine Bildungslücke. Trotzdem hatte ich noch nicht das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu schließen.«
»Dann sagt Ihnen der Name Marion Carmichael vielleicht mehr ?«, hakte Anne nach. »Sie können offen sprechen, es sei denn, Sie müssten hier Lauscher befürchten. Ich bin Marion Carmichaels Tochter.«
Vom Lord erfolgte keine Reaktion.
»Wie fanden Sie die Turandot-Aufführung in London vor vier Tagen ?«, fuhr Anne fort.
»Wie ich sie fand? Nun, in der >Times<. Ich las die Kritik. Ich bin Op ern liebhaber. «
»Sie waren nicht dort?«
»Wie hätte ich das gesollt? An jenem Abend befand ich mich mit dem Peer of Northumberland auf der Jagd in seinem Forst in den Cambrian Mountains. Ich kann mich nicht zerteilen.«
»Sie wollen also behaupten, nicht am vergangenen Montag in London und mit meiner Mutter Marion Carmichael in der Oper gewesen zu sein ?«, fragte Anne.
Peter Stanwell hörte schweigend zu.
»Jetzt sagen Sie nur noch, dass Sie sie überhaupt nicht kennen?«
»Vielleicht bin ich Ihrer verehrten Frau Mutter schon einmal begegnet«, erwiderte Lord Henry und runzelte ein wenig die Stirn. »Im Lauf meines Lebens habe ich schon sehr viele Menschen getroffen. Wenn es so ist, kann es nur eine sehr flüchtige Begegnung gewesen sein. Mir sagt der Name Marion Carmichael im Moment absolut nichts. - Sollte ich Mistress Carmichael kennen?«
Anne schaute hilflos zu Stanwell. Die Selbstsicherheit, mit der Lord Henry seine Behauptung aufstellte, setzte Anne momentan matt.
»Können wir hier offen sprechen, Lord Kensington ?«, fragte Stanwell im Flüsterton. »Wir kennen Ihre Beweggründe, eine Bekanntschaft mit Mistress Carmichael zu verleumden und respektieren sie.«
»Was, zum Teufel, soll das bedeuten ?«, brauste Lord Henry auf. Er war also doch nicht die Ruhe und Überlegenheit in Person. »Würden Sie sich bitte endlich genau
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