Die Verschwundenen
größeres Anwesen inmitten einer weitläufigen, bewaldeten Wohnsiedlung mit gutem Blick auf den Long Island Sound. Die neoklassizistischen Säulen der Villa leuchteten weiß zwischen den Bäumen hervor und sahen von ferne wie echter Marmor aus. Erst als Cotton und Decker die Auffahrt erreichten, erkannten sie, dass die Fassade aus lackiertem Holz bestand.
Hinter dem wuchtigen Portikus verbarg sich ein schlichteres, normales Landhaus mit angesetzter Garage. Lydiah Bruckner öffnete selbst die Tür – eine große Frau mit einem so massigen Körperbau, dass selbst Cotton sich von ihrer Gegenwart erdrückt fühlte. Er zeigte ihr seinen Ausweis.
»FBI. Tut mir leid, wenn wir stören, Mrs. Bruckner, aber wir wollten mit Ihnen über eine Ihrer Klientinnen reden. Dürfen wir hereinkommen?«
Sie hatten ihren Besuch nicht angekündigt, denn Cotton hielt viel vom ersten Eindruck: Wenn man gewisse Dinge das erste Mal zur Sprache brachte, konnte das Gesicht eines Menschen vieles verraten, was am Telefon nicht zu erkennen war.
Bruckner zögerte. »Um was geht es denn?«
»Um Laura Robinski«, warf Decker ein.
Bruckner schaute verständnislos drein.
»Sie kennen die Frau unter dem Namen Mira Anthony«, fügte Cotton hinzu. »Sie wohnte in einem Apartment beim Victory Boulevard auf Staten Island. Sie haben die Wohnung für sie angemietet und verwaltet.«
»Oh Gott, ein falscher Name!«, entfuhr es Bruckner. »Aber die Papiere waren doch in Ordnung! Ist die Frau in etwas Illegales verwickelt?«
»Möglicherweise«, sagte Decker.
»Auf jeden Fall ist sie tot«, sagte Cotton. »Alles Weitere wollen wir herausfinden.«
Lydiah Bruckner blinzelte. Sie sah aus, als hätte man sie vor den Kopf geschlagen. »Ja, sicher … bitte, kommen Sie herein …«, stammelte sie.
Sie führte die beiden Agents in einen großzügigen Salon und bot ihnen auf plüschigen Polstermöbeln, die den Charme der Siebzigerjahre verströmten, Platz an. Die großen Panoramafenster gewährten einen Blick auf den Strand und den bleigrauen Himmel, der darüberhing.
Ächzend ließ die Maklerin sich auf eine Couch sinken, fuhr aber sofort wieder hoch.
»Oh, verzeihen Sie! Wo bleibt meine Höflichkeit? Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«
Cotton winkte ab.
»Ja, gern«, sagte Decker. »Sie sollten sich auch einen machen. Tut mir leid, dass wir Sie mit dieser Nachricht überfallen haben.«
Bruckner verschwand im hinteren Teil des Hauses. Cotton blickte Decker fragend an.
»Ich wollte nicht gleich mit Fragen über sie herfallen«, erklärte sie. »Die Frau braucht erst mal einen Augenblick, um sich zu beruhigen.«
Cotton nickte. »Sie haben recht. Robinskis Tod war offenbar ein schlimmer Schock für sie.«
»Fast schon ein bisschen zu schlimm für meinen Geschmack.« Decker schaute nachdenklich in den trüben Herbstnachmittag hinaus. »Ich frage mich, ob sie mehr mit Robinski verband als eine reine Geschäftsbeziehung.«
»Womöglich ist sie bloß empfindsamer, als sie aussieht.«
Die Maklerin kehrte mit einem Tablett zurück und setzte sich. Die feine Porzellantasse klapperte auf der Untertasse, als Bruckner sie anhob.
»Entschuldigen Sie meine Neugier«, sagte sie, »aber was ist mit Miss Anthony geschehen? Wurde sie ermordet? Warum ist das FBI …«
»Sie ist in einem Hafenbecken ertrunken«, sagte Cotton. »Über weitere Einzelheiten dürfen wir leider nicht reden. Wir sind zu Ihnen gekommen, weil die Sicherheitsfirma Ihnen die Schlüssel zum Apartment ausgehändigt hat. Haben Sie einen Ersatzschlüssel behalten?«
Bruckner schüttelte den Kopf. »Miss Anthony wollte beide Schlüssel. Sie … Ich glaube, sie wollte genau wissen, wen sie in ihre Wohnung lässt. Sie wirkte ein wenig … wie soll ich sagen … zurückgezogen.«
»Haben Sie Miss Anthony näher gekannt?«, wollte Decker wissen.
»Offenbar kannte ich sie nicht so gut, wie ich dachte«, antwortete Bruckner.
»Ihre Zusammenarbeit ging über die üblichen Dienste eines Maklers hinaus«, stellte Decker fest. »Sie waren als Ansprechpartner für den Vermieter eingetragen, und Sie haben sich auch um die Schlösser gekümmert. Ein sehr weitreichender Service.«
»Ja, aber das sind meine üblichen Dienstleistungen. Alles läuft über mich, und wenn der Kunde es wünscht, muss er auch nach der Vermittlung nie persönlich in Erscheinung treten. Das ist besonders für Prominente interessant, die nicht nur eine Wohnung in New York suchen, sondern einen sicheren Rückzugsort mit
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