Die Verschwundenen
Privatsphäre.«
»Verstehe«, sagte Decker. »Aber Sie wissen nicht, wer Mira Anthonys zweiten Schlüssel haben könnte?«
Bruckner zögerte kaum merklich mit der Antwort. »Nein«, sagte sie dann. »Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie vielen Leuten ihr Vertrauen schenken.«
*
Auf der Rückfahrt überließ Cotton seiner Partnerin das Steuer. Regen prasselte gegen die Scheiben, und der Wind zerrte an den Bäumen und Sträuchern am Straßenrand.
»Eine Stunde hin, eine Stunde zurück«, murrte Cotton. »Ich weiß nicht, ob der Aufwand sich gelohnt hat.«
»Sie wollten die Zeugin sehen«, sagte Decker. »Ohne vorher anzurufen.«
»Das stimmt leider«, gab Cotton zu.
Über sein Smartphone rief er Sarah Hunter in ihrem Labor an und erkundigte sich, ob sie schon etwas zu den Hinweisen sagen könne, die sein nächtlicher Ausflug erbracht hatte.
»Der abgerissene Stoff passt zur Jacke der Toten«, berichtete Hunter. »Wir haben also einen Tatort.«
»Und die Patronenhülsen?«, fragte Cotton.
»Schreckschuss«, bestätigte Hunter. »Und wir haben nur die Fingerabdrücke des Opfers darauf gefunden. Es sieht so aus, als hätte Laura Robinski selbst die Waffe geladen, mit der geschossen wurde.«
»Also hat sie selbst geschossen?«
»Das bezweifle ich«, sagte Hunter. »Sie hat keine Schmauchspuren an den Händen. Dafür haben wir Pulverrückstände an ihrer Jacke und an der Bluse gefunden. Jemand hat aus nächster Nähe auf ihre Brust gefeuert. Und ich würde meine spärliche Pension darauf verwetten, dass die Rückstände auf ihrer Jacke von derselben Pulvermischung stammen wie die an den Patronenhülsen.«
»Moment mal …« Cotton dachte kurz nach. »Du meinst also, Laura Robinski bringt eine Pistole mit Platzpatronen zu den Docks, und irgendwer nimmt ihr die Waffe weg und feuert damit auf sie?«
»So sieht's aus«, bestätigte Hunter.
»Danke, Sarah!« Nachdenklich legte Cotton auf.
»Eine heiße Spur?«, fragte Decker.
»Zusätzliche Fragen, fürchte ich«, sagte Cotton.
»Wir sollten Skalsky weiter unter die Lupe nehmen, wenn wir zurück sind.«
Cotton horchte auf. »Skalsky? Seine Verbindung zu Robinski ist kalt. Wir müssen herausfinden, mit wem sie kurz vor ihrem Tod zu tun hatte. Vielleicht sollten wir die Maklerin noch mal überprüfen …«
»Was wollen Sie da finden?« Decker klang skeptisch.
»Ich weiß nicht«, sagte Cotton. »Aber überlegen Sie mal: Nach Robinskis Tod war jemand in ihrer Wohnung, mit ihrem Schlüssel. Und wir wissen, dass die Frau nicht der Typ war, der den Zweitschlüssel leichtfertig aus der Hand gibt. Außerdem wissen wir, dass sie freiwillig bei den Docks gewesen ist. Sie muss sich mit jemandem getroffen haben, den sie kannte und dem sie vertraut hat, sonst wäre sie nie zu so einem Treffpunkt gegangen. Diese Beschreibung passt zu dem Typen, der ihren Schlüssel haben könnte, aber bestimmt nicht zu Skalsky und seinen Männern.«
»Mag sein«, sagte Decker. »Wir wissen aber auch, dass Laura Robinski tot ist und Skalsky ein Motiv für die Tat hat. Was in der Nacht bei den Docks wirklich passiert ist, können wir nur vermuten.«
»Wissen Sie, Decker«, sagte Cotton. »Ich würde am liebsten den Typen finden, den ich vor Robinskis Wohnung im Hausflur gesehen habe. Diesen angeblichen Kurier. Der könnte uns bestimmt ein paar Fragen beantworten.«
»Gut«, sagte Decker. »Dann halten Sie die Augen offen! Vielleicht sehen Sie ihn wieder, wenn wir uns ein wenig in Skalskys Umgebung umschauen.«
*
Der kleine Mann mit dem grauen Bartstreifen saß auf seinem Schreibtisch und blickte auf Lydiah Bruckner herunter, die zusammengesunken vor ihm auf einem Stuhl hockte.
»Lydiah«, sagte er. »Du musst dich beruhigen.«
»Wie sollte ich?« Die Maklerin schniefte. »Sie ist tot. Da musste ich an Rimes Martin und Tim North denken. Das waren auch Freunde von dir, die auf deine Empfehlung zu mir kamen und die irgendwann einfach verschwunden sind. Was ist mit ihnen geschehen?«
Der Mann seufzte. Er rutschte von der Sitzfläche und klappte einen schweren Eichenschrank auf. Eine kleine, gut gefüllte Bar kam zum Vorschein. Er schenkte zwei Gläser voll.
»Hier, nimm erst mal einen Cognac, Lydiah«, sagte er. »Denken wir in Ruhe darüber nach.«
Er drückte der Maklerin einen Drink in die Hand. Ihre Finger waren so kraftlos, dass der Mann sie um das Glas schließen musste. Im Stehen hätte Lydiah Bruckner ihn weit überragt, aber jetzt kauerte sie in dem bequemen
Weitere Kostenlose Bücher