Die Versteckte Stadt: Thriller
würde er die schmutzigen, stinkenden Zähne der Bestie schon an seinem Hals spüren -
„Chow!“
Ein Jaulen, ein Aufprall, Fellbeine auf der Brust, eine Schnauze, die an seinem Arm vorbeiwischte, Speichelreste auf Tills Pullover schmierend. Eine Pfote, die sich in seinen Bauch drückte, dann wirbelte das Vieh herum, stieß sich von ihm ab, sprang zurück zu der Bude, deren Seitentür jetzt geöffnet war. Die Krallen klatschten auf dem Betonboden, das Tier wieherte fast wie ein Pferd und lief dem Chinesen entgegen, der - einen Rucksack auf dem Rücken, und freundlich Till zuwinkend - eben aus der Tür getreten war.
Till blieb auf dem Boden sitzen. Die Beine taub, das T-Shirt unter dem Kapuzenshirt klatschnass, das Gesicht von der Panik eiskalt. Zurückwinken kam nicht in Frage. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er konnte nicht einmal lächeln. Aber das schien den Chinesen nicht weiter zu stören. Er hatte offenbar überhaupt nicht bemerkt, dass sein Hund Till beinahe angefallen hätte, es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich zu entschuldigen. Er warf nur die Seitentür seiner Bude zu, verschloss sie zweimal, sah kurz zu dem Hund, der Till vollkommen vergessen zu haben schien, und marschierte ohne weitere Verzögerung den Gang hinunter, in die Richtung, in der die Halle mit den anderen Buden lag.
Till ließ ein paar Minuten verstreichen. Die Geräusche waren jetzt zu einem entfernten Brausen zusammengeschmolzen. Das Brausen der Stadt.
Langsam erhob er sich, ging zu der Bude und linste durch das schmierige Glas. Drinnen war es dunkel. Schemenhaft konnte Till die Tür in der Rückwand erkennen. Sie war geschlossen. Vor den Spalt unter dem Glas, durch den der Koch den Tag über seine Speisen gereicht hatte, war ein Brett gelegt. Aber der Spalt wäre ohnehin zu schmal gewesen, um hindurch zu kriechen.
Till schielte zum Dach der Bude. Es war komplett durchgezogen und sah solide aus. Er schüttelte sich. So nahe dran war der Gestank noch schlimmer. Im gleichen Moment realisierte er, dass der süßliche Müllgeruch - jetzt, wo nicht mehr gekocht wurde - nicht direkt aus dem Imbiss kam, sondern aus einem Müllsack, der in einem einfachen Gestell gleich daneben hing. Dorthinein hatten die paar Kunden, die etwas gegessen hatten, ja auch ihre Einwegschalen geworfen. Till trat an den Plastiksack heran, der nur durch einen lose aufsitzenden Deckel, einen Teil des Gestells, verschlossen wurde. Der Sack hing schlaff herunter, lediglich das untere Viertel war gefüllt.
Till kniff die Augen zusammen. Und plötzlich sah er es. Es war eine unendlich langsame, schleppende Bewegung - aber wenn er genau darauf achtete, war sie nicht zu übersehen. Die dünne, blaue Plastikfolie des Müllsacks wogte leicht hin und her. Beulte sich aus, fiel wieder ein, die schlaffen Falten verschoben sich, wanderten, dann wieder war ganz leise zu hören, wie der Inhalt des Sacks durch die Bewegung hin und her glitt. Ein schmatzendes Rascheln, unterbrochen hin und wieder von einem Knacken, wenn der Deckel aus Metall, der den Sack an dem Ring festhielt, durch die Bewegung verrutschte.
Till steckte der Köter noch in den Knochen. Die endlose Warterei. Der Gestank, der jetzt unerträglich zu werden schien. Aber es war seine einzige Chance. Wenn er es nicht über sich brachte, den Deckel zu heben, ging er von hier fort, ohne etwas erreicht zu haben.
Gewaltsam stieß er den Atem aus, den er in der Lunge hatte, spannte die Muskeln an Armen und Hals, trat auf den Eimer zu, holte tief Luft – und warf den Deckel zurück.
Warmer Dunst quoll ihm aus dem Plastik entgegen – rasch versenkte Till Mund und Nase in seiner Armbeuge und spähte über den Rand in den Sack. Das schleimige Rutschen und Raspeln war jetzt deutlich zu hören – und nun auch zu erkennen, woher es rührte. Es waren Würmer, groß wie Finger. Sie glitten übereinander her, weiß, blind, sich an den Resten vollfressend, die in dem Sack lagen. Hunderte, Tausende vielleicht, wie trunken von dem Gestank, in dem sie sich labten.
Für einen Moment hatte Till das Gefühl, kopfüber in diese Brut hineinstürzen zu müssen, doch dann machte der Schwindel einem anderen Gefühl Platz. Dem brennenden Gefühl des Wiedererkennens. Denn zwischen den weißlichen Leibern der Würmer sah Till etwas Grünes, etwas Blaues, etwas Gelbes hindurchschimmern. Brillante Farben, wenn die Absonderungen der Würmer sie nicht bereits abgestumpft hätten, die Farben von Federn - die Farben von Flügeln - die Farben
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