Die Versteckte Stadt: Thriller
nehmen. Till war klar, dass er Glück haben musste. Er konnte nicht warten, ob Bentheim wirklich in den Zug stieg. Er musste gleichzeitig mit ihm hinein und zwar möglichst in einen Nachbarwagon. War Bentheim zu weit weg, konnte er ihn leicht aus den Augen verlieren. Stiegen sie aber in den gleichen Wagen ein, war es fast ausgeschlossen, dass Bentheim ihn nicht sah.
Die Minuten schleppten sich wie Fußkranke dahin. Als der Zug endlich einfuhr, waren Tills Hände schweißnass. Er wartete, bis der Zug zum Stehen gekommen war, sich die Türen geöffnet hatten. Dann schoss er los. Nicht zu schnell – aber hurtig. Das musste der Moment sein, an dem Bentheim selbst damit beschäftigt war, über den Spalt zwischen Zug und Bahnsteig zu steigen, der Moment, an dem er sich nicht groß umsehen würde. Kurz bevor er in den Zug sprang, warf Till einen Blick zur Seite. Der Bahnsteig war leer. Hatte er ihn verloren?
Der Pfeifton, die Türen ratterten zusammen. Ein Ruck. Dann fuhren sie. Till versteckte sich hinter einer Gruppe von Touristen. Nach ein paar Sekunden Fahrtzeit schob er sich nach vorn und blickte an ihnen vorbei durch das Fenster in den Wagon, der vor ihnen fuhr. Er war nur halb voll. Die Sitze waren weitgehend besetzt, ein paar Leute standen. Bentheim? Fehlanzeige. Till näherte sich dem Fenster, um besser hindurchsehen zu können, tastete mit dem Blick Sitz für Sitz ab. Der Mann war nicht in dem Wagen.
Sie fuhren in die nächste Station ein. Westkreuz. Kaum hatte der Zug gehalten, sprang Till aus dem Wagon, huschte über den Bahnsteig und stieg in den Nachbarwagon ein, den er eben überprüft hatte. Pfeifton, Ruck, Anfahrt. Mit federnden Schritten eilte Till durch den Wagen nach vorn. Und sprang auf halben Weg hinter die Seitenwand der längs aufgestellten Sitze. Bentheim war im nächsten Wagon, wenige Meter hinter dem Fenster!
Till ließ sich auf den Boden gleiten und drückte den Rücken gegen die Trennwand, hinter der er Schutz gesucht hatte. Als er zur Seite blickte, bemerkte er, dass ihn eine Frau, die ihm in den Sitzen schräg gegenüber saß, verwundert ansah. Er lächelte. War nicht schön auf dem Boden zu sitzen, schon klar. Aber so schlimm nun auch wieder nicht. Sie sollte sich mal lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Charlottenburg. Savignyplatz. Zoo. Tiergarten. Bellevue. Hauptbahnhof. Friedrichstraße. Vor jeder Station schob sich Till ein wenig nach vorn, um zu sehen, ob Bentheim Anstalten machte, auszusteigen. Aber er blieb ruhig stehen, hatte eine Zeitung vor der Nase, lehnte gegen die Haltestange. Und fuhr. Bis Alexanderplatz. Als sich die Bahn über den weiten Bogen dem Fernsehturm näherte, sah Till, dass Bentheim die Zeitung in die Tasche seines Regenmantels gesteckt hatte und zur Tür getreten war. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und Till hastete los. Er konnte keinesfalls aus der Tür herauskommen, die genau neben der Tür Bentheims lag, dann würde er ja fast mit ihm zusammenstoßen! Till eilte bis ans Ende des Wagons und kam gerade noch rechtzeitig, um den grün leuchtenden Türknopf zu betätigen. Die beiden Flügel zischten auf. Er trat hinaus.
Auf dem Bahnsteig herrschte reges Treiben. Die Leute standen dicht an dicht. Till glitt zwischen ihnen hindurch. Er war kleiner als die meisten, würde also von weitem nicht ohne weiteres gesehen werden können. Aber er wusste auch nicht, welche Treppe Bentheim benutzen würde. Da sah er ihn. Max‘ Vater hatte die Rolltreppe genommen, die genau vor der Tür lag, aus der er aus dem Zug gestiegen war. Eine Traube von Menschen hatte sich vor der Rolltreppe gebildet. Till drängte sich zwischen die Fahrgäste, schob sich zum Aufgang. Die Rolltreppe ließ er rechts liegen, hastete zur Steintreppe, die zwischen der aufwärts- und der abwärtsführende Rolltreppe angelegt war. Auch dort drängten sich Fahrgäste aneinander vorbei. Wenn er sich jedoch klein machte, konnte er unauffällig zwischen ihnen hindurchschlüpfen.
Als Till unten angekommen war, hatte er für einen Augenblick die Orientierung verloren. In alle möglichen Richtungen gingen Gänge ab. Ein Gewirr von Treppen, Ebenen, Korridoren, Rondells, Übergängen, Hallen. An dem Bahnhof schienen sich mindestens achtzig verschiedene S-, U-, Tram- und Fern-Bahnlinien miteinander zu verknoten. Es wirkte, als würde die Halle, in die Till über die Treppe gelangt war, geradewegs im Zentrum dieses Knotens angelegt worden sein, als hätten die Planer Wert darauf gelegt, von hier
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