Die Versteckte Stadt: Thriller
Ravioli gefüllt mit Ricotta und Spinat, etwas Gulasch mit einem halben Knödel, eine Hähnchenkeule frisch aus dem Ofen … Sie hatte all das zubereitet, von dem sie wusste, dass Max es schon immer am liebsten gegessen hatte.
Julia schob die Tüten zur Seite und sah zu ihrem Sohn, der ihr mit großen Augen zugeschaut hatte. Es gab keinen Grund darüber zu reden. Julia wusste, dass er es wusste: Dass er vor allem deshalb hier war, weil er seit Tagen nichts mehr gegessen hatte. Sie hatten versucht, ihm einen Tropf anzulegen, um ihm die nötigen Elektrolyte intravenös zu verabreichen. Aber Max hatte den Tropf immer wieder aus dem Arm gerissen, kaum dass er allein gelassen worden war. Trimborn hatte Julia gefragt, ob sie den Jungen fixieren sollten, dann würde er sich den Tropf nicht länger herausziehen können. Das hatte Julia zwar schockiert zurückgewiesen - aber sie wusste: Es war alles nur eine Frage der Zeit. Der Arzt, der Max hier im Krankenhaus betreute, hatte jedenfalls keinen Zweifel daran gelassen: Heute war der letzte Tag, den er es verantworten konnte, die Ernährung des Jungen nicht anzuordnen. Heute musste es ihr gelingen, heute musste Max etwas essen. Sonst würde sie den Arzt bitten müssen, sich darum zu kümmern.
„Du hast keinen Hunger, was?“ Ihre Augen begegneten denen ihres Sohnes. Er schüttelte den Kopf.
„Ich hab dir deine Lieblingsgerichte mitgebracht.“
Nicken.
„Ich hab die selbst gekocht.“
„Ja.“
„Du hast seit Tagen nichts mehr gegessen, Max, es kann doch gar nicht sein, dass du keinen Hunger hast.“
Seine Augen lösten sich von ihrem Gesicht und wanderten zum Fenster.
„Max, wenn du heute nichts isst … Ich habe mit den Ärzten gesprochen … das kann so nicht weiter gehen.“
Sie hatte alles versucht. Sie hatte gedroht, gefleht, auf ihn eingeredet, auch Xaver gebeten, mit Max zu reden. Sie hatte sogar Lisa vorgeschickt, damit sie einmal mit ihrem Bruder sprach. Julia hatte Max Geschenke versprochen, sie hatte ihm Sachen weggenommen, von denen sie wusste, dass er sie liebte, und angekündigt, dass er sie erst wiederbekommen würde, wenn er auch wieder anfangen würde zu essen. Es hatte alles nicht genutzt.
Dann hatte sie begonnen, zu den Ärzten zu gehen. War ihr Junge plötzlich magersüchtig geworden? Sie hatte erfahren, dass man das früher hauptsächlich von Mädchen kannte, dass es aber längst nichts Besonderes mehr war, wenn auch Jungen ganz plötzlich Schwierigkeiten mit dem Essen bekamen. Was genau jedoch der Grund für Max‘ Hungern war, darüber hatten ihr die Fachleute - auch nach einem Gespräch mit Max - keine eindeutige Auskunft erteilen können. Nur ein Psychiater hatte die Vermutung geäußert, dass Max unter einer psychotischen Störung leiden könnte. Dass Max vielleicht denken würde - auch wenn er das nie gesagt hatte - dass das Essen vergiftet sein könnte. Bisher hatte sie es nicht gewagt, ihn danach zu fragen.
„Hast du Angst, dass die Sachen vergiftet sein könnten?“ Ihre Stimme war leise jetzt, fast nur ein Flüstern.
Max starrte sie an. Auf seinen Wangen erschienen hellrote Flecken.
„Hör zu Mäxchen, ich glaube nicht, dass du sowas denkst. Dass ich … dass ich dir was antun könnte … aber … Wenn du heute nichts isst, dann muss ich den Arzt bitten, dafür zu sorgen, dass du keinen Schaden nimmst. Dein Körper ist geschwächt. Du machst ihn kaputt.“
Sie fühlte plötzlich, wie ihre Augen sich füllten. Rasch wandte sie sich ab, wischte mit dem Handrücken darüber und drehte sich wieder ihrem Jungen zu. So würden sie nicht weiterkommen, wenn sie jetzt anfing zu heulen.
Sie griff nach seiner Hand. „Willst du das?“
Max hatte den Mund ein wenig geöffnet, stoßweise holte er Atem, aber nicht tief aus dem Bauch heraus, sondern hastig und flach.
„Sie werden dich am Bett fixieren müssen, damit du den Tropf nicht rausziehst.“ Julia fühlte, wie sich unerträgliche Bilder in ihren Kopf drängten, Blitze, in denen sie ihren Sohn sah, der festgehalten wurde - aber sie drückte die Bilder gewaltsam weg. Die Ärzte hatten ihr doch gesagt, dass Max betäubt werden würde … - ‚Ja, wenn sie den Tropf anschließen‘, flüsterte es in ihr, ‚aber wenn sie ihn zwangsernähren? Dann können sie ihn doch gar nicht betäuben … ‘
„Sie müssen dir einen Schlauch in den Magen schieben, Mäxchen“ - es war, als würde jedes Wort, das sie zu ihrem Jungen sagte, ihr selbst tief ins Herz schneiden - „das ist … ich
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