Die Versteckte Stadt: Thriller
hörte er Lisa sagen, „was stellst du dir denn vor? Dass ich stillhalte und zusehe, wie mein Bruder vor die Hunde geht?!“ Ihre Stimme wurde schrill jetzt, Till konnte hören, wie sie von der Verantwortung, die er auf ihr abgeladen hatte, niedergedrückt wurde.
„Hör zu Lisa“, er ließ ihren Arm los und sah, dass die Haut an der Stelle, an der er gedrückt hatte, ganz weiß geworden war. „Es geht nicht darum, wie krank das klingt, was Max bedrückt. Es geht darum, dass er Angst hat. Okay? Angst vor deinem Vater. Wenn Max jetzt erfährt, dass du deinem Vater erzählt hast, wovor er sich ängstigt - “
„Max braucht das ja nicht zu erfahren.“
„Nein!“ Wütend sprang Till von seinem Stuhl auf. „Darum geht es nicht! Dein Vater hat mich hier aufgenommen. Ich habe euch viel zu verdanken. Aber … “ Für einen Augenblick zögerte er. Konnte er ihr vertrauen? Aber dann kamen die Worte wie von selbst aus Tills Mund, ohne dass er sie hätte aufhalten können. „ … aber es gibt ein paar Sachen, die schon komisch sind.“ Till fühlte sich wie ein Ertrinkender, der in einer bewegten See nach Balken sucht - nur waren die Balken, nach denen er suchte, die passenden Worte. „Es gibt nur einen Weg, wie wir Max helfen können. Wir müssen ihm zeigen, dass er sich auf uns verlassen kann. Dass er deinem Vater nicht ausgeliefert ist. Dass es jemanden gibt, der auf seiner Seite ist, der zu ihm hält - egal was passiert.“
Es war viel, was er von ihr verlangte: Dass sie ihm mehr vertrauen sollte als ihrem eigenen Vater. War es leichtsinnig, vielleicht sogar geradezu dumm gewesen, sie ins Vertrauen zu ziehen? Verlangte er von ihr jetzt nicht das, was er selbst nicht geschafft hatte: Es für sich zu behalten, niemanden mit reinzuziehen?!
„Was willst du denn jetzt machen?“ Sie sah ihn an.
„Ich fahr ins Krankenhaus und muss ihn sehen. Er hat mich gebeten, die Nacht lang auf ihn aufzupassen, aber ich bin eingeschlafen.“
Till sah, wie ein Hauch von Mitleid über ihr Gesicht huschte. „Okay.“
„Was?“ Hatte er sich verhört?
„‘Okay‘, hab ich gesagt“, wiederholte Lisa. „Ich warte, bis du wieder da bist. Und mir erzählst, wie es ihm geht.“
Es kam Till so vor, als würde er aus großer Tiefe an die Oberfläche tauchen. „Gut. Und wenn deine Mutter fragt, sag ihr ruhig, dass ich losgefahren bin, um Max zu besuchen. Das wird schon in Ordnung sein.“
6
Als Julia in das Zimmer trat, lag ihr Sohn auf der Seite und schaute aus dem Fenster.
„Max!“ Sie stellte die Tüten auf den Boden und ging zu ihm. Er drehte sich auf den Rücken. Sein hellhäutiges Gesichtchen kam ihr noch ein wenig eingefallener vor als sonst. Die Haare waren jetzt schon länger nicht mehr geschnitten worden und hingen ihm in die Stirn. Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus.
„Mama.“
Julia hockte sich auf die Bettkante und nahm die Hand ihres Sohnes, die auf der Bettdecke lag. Er rollte sich herum und legte den Kopf auf ihren Schoß. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, streichelte über seinen Kopf. Max‘ Haare fühlten sich immer noch so weich an wie die eines Kleinkindes.
Ihr Blick wanderte zu dem Fenster, aus dem er geschaut hatte. Das Zimmer befand sich im letzten Stock eines der beiden Bettentürme. Das Fenster nahm fast die ganze Wand ein und durch es hindurch blickte man auf den Teltow-Kanal, Teile der Betonstruktur des Krankenhausbaus ragten ins Blickfeld hinein. Flächen, Quadrate, Ebenen - ein gewaltiger Bau aus den sechziger Jahren, einst das modernste und größte Krankenhaus Europas - heute verwittert, veraltet, fast schon verkommen.
Sie schaute zurück zu ihrem Jungen. „Ich hab dir ganz viele Sachen mitgebracht.“
Er blieb reglos liegen.
„Max?“
Max glitt von ihrem Schoß wieder herunter, streckte sich aus und sank zurück auf das große, weiße Kissen an seinem Kopfende. Metallstangen, Schienen, Seilzüge - sein Krankenhausbett sah aus, als ob er mit dem Ding aus dem Fenster fliegen könnte, wenn er nur die richtigen Hebel bediente.
Julia stand auf und holte die Tüten, die sie am Eingang abgestellt hatte. Bevor sie ins Krankenhaus gefahren war, hatte sie zwei Stunden lang mit Rebecca in der Küche gestanden und gekocht. Sie nahm auf dem Stuhl neben Max‘ Bett Platz, zog den Nachttisch heran, räumte die Platte leer und begann die Sachen, die sie mitgebracht hatte, darauf zu stellen. Eine kleine Schale mit einer klaren, heißen Hühnerbrühe, eine winzige Portion
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