Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
lachte:
„Keine Angst. Ich helfe gerne.“ Ihr Lachen war warm und freundlich und
klang nicht gezwungen. Erleichtert reichte Ceela ihr den Jutesack.
Während das Mädchen Ceela den Inhalt der Tasche ausführlich beschrieb,
fühlte Ceela sich noch vertrauter und geborgener als zuvor, war völlig anders,
sie war aufgeschlossen, ja sogar fröhlich. Die beiden Mädchen lachten und
plauderten ausgelassen. Sie war nicht immer so schüchtern, auch nicht immer so
schnippisch wie zu Beginn zu Jay. Sie war immer nett und herzlich,
vertrauensvoll zu allen, doch alle hatten sie enttäuscht, deswegen hatte sie
lange keinen Mut gehabt sich jemandem zu öffnen, jemanden an sich heran zu
lassen, doch es tat ihr gut. Die Anwesenheit des Mädchens tat ihr gut. Sie war
nicht mehr einsam. Wie hieß sie eigentlich? Sie fragte nach und kam sich
dämlich vor, dass sie jetzt erst fragte.
„Grace Maining. Und du?“, sagte Grace höflich.
„Ceela Nish“, antwortete Ceela mit einem Lächeln.
Sie musste sich schnell wieder etwas anziehen, ihr wurde kalt. Ceela
zog sich als erstes wieder ihre dicken Kniestrümpfe über. Grace half ihr in die
Hose und gab ihr dann das Oberteil. Ceela streifte sich das Shirt über den Kopf
und steckte ihre Arme behutsam in die Ärmel. Der gerippte weiche Stoff
schmiegte sich an ihre Haut und hielt sie warm. Alle Kleidungsstücke waren
einfach hergestellt und nicht verziert. Sie waren aus pflanzlichen Stoffen und
nicht aus der Fabrik, wie normale Kleidungsstücke.
„Was ist eigentlich, wenn es tagsüber warm wird? Was soll ich dann
machen?“, fragte Ceela plötzlich.
„Stimmt! Daran habe ich gar nicht gedacht! Ich hab eine Idee“, sagte
Grace und schlug sich mit der Hand vor den Kopf. Mit ein paar Handgriffen zog
sie Ceela noch einmal um. Sie hatten noch eine enge Shorts und ein Tanktop
unter die langen Kleidungsstücke gezogen. Dieselben Änderungen nahm sie an
ihrer eigenen Kleidung vor.
„Es gibt nur zwei Paar Schuhe. Am besten ziehst du jetzt die hier an.“
Sie zeigte auf ein paar braune Schnürstiefel. Sie waren aus Leder und
innen ein wenig gefüttert. Grace beschrieb sie Ceela kurz und zog sie ihr dann
über die warmen Wollsocken. Dann band sie vorsichtig die Schnürsenkel zu einer
kunstvollen Schleife, die aber spätestens bei dem ersten Schritt zu einem
hängenden Klumpen wurde. Die anderen Schuhe, einfarbige Stoffschuhe, schob sie
zurück in den Jutesack. Vor ihnen auf dem Boden lag noch ein endlos langer grob
gestrickter Schal. Die luftige Wolle hatte denselben Farbton wie die Hose, die
die beiden Mädchen trugen. Liebevoll wickelte Grace Ceela den Schal um den
Hals, dass er ihr locker über die Schulter fiel. Sie standen nebeneinander,
fertig gekleidet, beide mit exakt der gleichen Kleidung. Dieser Moment war so
normal, so menschlich, dass Grace fast vergaß, dass sie auf dem Weg in den Tod
war. Grace nahm den Jutesack mit den noch übrig gebliebenen und den alten
Sachen von Ceela in die eine Hand. Mit der anderen Hand umschloss sie Ceelas
Finger. Sie lief los, führte Ceela hinaus und schloss dann die Türen.
„Wir müssen uns beeilen.“, erwähnte Grace hektisch.
Mit schnellem Schritt lotste sie Ceela treu an jedem Hindernis vorbei.
Ein wenig erschöpft kamen sie nun an ihrem Bus an. Sie waren die letzten. Das
war ja wohl egal. Es ging schließlich nur darum in die Reservate zu fahren. Das
war kein Urlaub, bei dem man auf keinen Fall den Flieger verpassen wollte. Es
war ernst. Sie kamen ihrem neuen Leben mit großen Schritten entgegen, ihrer
neuen Heimat, fernab jeglicher Zivilisation. Da waren ein paar kleine Minuten
Verspätung wohl nicht der Rede wert. Falsch gedacht. Ein Mann blickte sie
genervt und wütend zugleich an.
„Wisst ihr eigentlich, wie lange wir schon auf euch warten?! Ihr haltet
den ganzen Zeitplan auf! Es gibt hier Regeln, und an diese Regeln solltet ihr
euch halten! Gewöhnt euch besser jetzt schon mal daran, denn später gehen wir
damit nicht mehr so locker um!“
Kein Mitleid, weil Ceela blind war, keine Entschuldigung. Er schrie sie
an. Das passte Grace nicht. Wie konnte man mit einem kranken Menschen nur so
umgehen? Sie meldete sich zu Wort:
„Moment mal! Sie ist blind, es hat eben länger gedauert. Und außerdem:
Das waren nur ein paar Minuten! Das wird ja wohl nicht euren tollen Zeitplan
auch nur ansatzweise gefährden!“, schnaubte sie empört.
Die Miene des Fremden verfinsterte sich zu einem Ausdruck aus
Entsetzten und glühender Wut. Er hatte
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