Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
Temperament. Wer war er? Hatte er hier
auch eine Art Aufgabe? Oder war er ein Freund von Jason? Wo war Jason
eigentlich? Fragen, über Fragen schwirrten in Ceelas Kopf umher, doch es
fehlten die Antworten, die Lösungen. Egal, das konnte warten. Sie konzentrierte
sich und lauschte angestrengt weiter dem Wortgefecht.
„Diese paar Minuten hätten in den Reservaten über Leben und Tod
entscheiden können. Das ist kein Spiel, es ist auch kein schlechter Traum, aus
dem ihr gleich aufwacht! Nein, es ist die Realität! Es ist die verdammte, harte
Welt, in der ihr bald landet. Okay? Reißt euch am Riemen! Disziplin ist der
Grundbaustein! Wenn ihr so weiter macht, bezweifle ich ob ihr die ersten Wochen
bei uns im Lager bleiben könnt, geschweige denn überhaupt überlebt!“
Er nuschelte noch ein paar Wörter vor sich hin und spuckte auf den
Boden. Grace verdrehte die Augen. Die anderen Ropeys standen stumm da. Kein
Widerspruch gegen die Worte des Mannes. Sie schienen ihm zuzustimmen oder es
war ihnen schlicht und einfach egal. Was war schon ein krankes Mädchen unter
Tausenden? Sie war doch nur eine gesichtslose Fremde, die, genau wie sie
selbst, dazu verdammt war, einen grausamen Tod in den Reservaten zu sterben.
Grace konnte diese Menschen nicht verstehen.
Hinter jedem Gesicht verbarg sich eine Geschichte. Diese Geschichte,
ihr Leben, ihre Erfahrungen, Erlebnisse, all das, ließ einen Mensch so denken,
so handeln, wie er es nun mal tat. Man konnte einen Menschen nicht auf den
ersten Blick verurteilen, bewerten, man hatte kein Recht dazu. Man konnte
Menschen besser verstehen, wenn man sich doch nur einen Augenblick Zeit nahm
und ihnen zuhörte, ihrer Geschichte zuhörte. Wenn man versuchte alles durch
ihre Augen zu sehen, wenn man ihre Vergangenheit kennt, dann kennt man auch
sie. Manche verstecken sich vor ihrer Vergangenheit, wollen sie vergessen, doch
sie ist schließlich ein Teil von einem Menschen, man kann sie nicht einfach,
wie einen Hut, ablegen. Es geht nicht. Auch wenn man sich das manchmal noch so
sehr wünscht.
Kapitel 7
Die Massen strömten in die Busse, hektisch, panisch. Grace und Ceela
ließen sich Zeit, gemütlich schlenderten sie durch die Tür, ob aus Protest
gegen den Fremden oder aus Angst vor dem, was sie erwarten würde, wenn der Bus
irgendwann an seinem Ziel ankommen würde.
Da war er. Er saß auf dem gleichen Platz wie vorhin, wartete auf sie.
Als er sie sah, stand er auf, machte mit der Hand eine Geste auf den Platz
neben ihm. Sie sah ihn nicht, sah die Handbewegung nicht. Er merkte es, kam
sich klein und erbärmlich vor, eine Blinde konnte seine Gesten doch nicht
wahrnehmen. Er sah Grace, das fremde Mädchen. Er fragte sich, wer sie war. Er
zeigte auf Ceela und dann auf den Platz neben ihm und stellte dann mit den Händen
zwei redende Menschen oder Münder dar. Grace verstand ihn, verstand den fremden
Kerl, der ulkig und ein wenig lächerlich mit seinen Händen in der Luft
rumfuchtelte. Sie musste grinsen.
„Ceela, ich glaube da ist jemand für dich. Da hinten, ein Junge, er kennt
dich. Ich denke er möchte mit dir reden, er hat dir einen Platz frei gehalten.
Warte, ich bring dich zu ihm.“
Ceela erschrak. Das hatte sie völlig aus ihren Gedanken verbannt. Wie ein
Schlag kam alles zu ihr zurück. Der Streit. Sie war völlig ausgetickt. Doch sie
wollte mit ihm reden, ihr Unterbewusstsein wollte es zumindest, drang sie dazu
weiterzugehen, zu ihm. Sie wollte aber keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen,
man könnte sie verletzten, enttäuschen. Ein innerer Kampf brannte in ihr. Was
sollte sie tun? Da war Grace und da war Jay und sie war vollkommen überfordert
mit der Situation. Zwei bewundernswerte, nette Menschen. Und da war sie, blind,
krank, vernarbt, entstellt. In ihrem Kopf dröhnte es und sie wusste nicht, was
sie eigentlich machte, doch sie konnte nicht anders. Sie konnte sich nicht für
ewig abschotten. Sie riskierte es, riskierte es, zu Jay zu gehen, so wie sie es
vorhin riskiert hatte und sich von Grace hatte helfen lassen. Sie ging zu ihm,
konnte ihn riechen, konnte seinen Atem hören. Grace war direkt hinter ihr. Sie
war froh darüber. Sie stand genau vor ihm. Sie spürte seinen Atem über ihr. Sie
legte ihren Kopf in den Nacken und blickte nach oben, zu ihm hinauf. Er
lächelte.
„Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich wollte dich
nicht anschreien, wollte dich nicht verletzen. Es tut mir aufrichtig leid.“ Seine
Stimme klang so ehrlich, wie seine
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