Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
nicht sehen! rief sie sich immer
ins Gedächtnis.
„Also, ich glaube, wir sind bald da. Wir sollten Jay und Lucas wecken.“
Ceela war schon so wach, als wäre sie es die ganze Zeit gewesen.
„Stimmt, das sollten wir.“ Sie nickte und lächelte immer noch.
Dann stand Grace auf, auch Ceela erhob sich. Grace griff ihre Hand und
führte sie durch den dunklen Bus vor zur ersten Reihe. In geregeltem Abstand
erhellten die nostalgischen Laternen die Umgebung.
„Hey, ihr seid auch wach.“ Jays Stimme drang zu ihnen, noch bevor sie
vor ihm standen.
„Ja, das sind wir. Vielmehr Grace, sie war wach und hat mir gesagt, wir
wären bald da.“
„Hab ich vermutet“, ergänzte Grace unsicher.
Auch Lucas war wach. Er antwortete ernst:
„Da liegst du richtig. Noch ein paar Kilometer, dann werden wir das Tor
erreichen. Dann sind wir da.“
Schweigen. Allen war bewusst, dass ein Zurück dann endgültig unmöglich
war. Ein neues Kapitel ihres Lebens würde beginnen. Ein spannendes, aufregendes,
grausames Kapitel, voller Erwartungen, Hoffnungen und wahrscheinlich auch
leider voller Enttäuschungen. Sie waren gespannt darauf. Aber sie fürchteten
sich auch vor dem, was der Autor ihres Lebens wohl so alles auf das Papier
zaubern würde. Sie hofften das Beste.
Kapitel 15
Voller Erwartungen, voller Hoffnung und mit unglaublich großer Angst
blickten sie aus der Frontscheibe. Die nächste Lampe erhellte ihr Blickfeld.
Grace war so aufgeregt, dass ihre Hände zitterten, sie wollte es nicht, versuchte
das Zittern zu unterdrücken. Vergeblich. Die Aufregung, die Angst, sie waren
ein zu großer, mächtiger Gegner. Jeder unternommene Versuch ihre Krämpfe zu
mildern, endete mit demselben, nicht zufriedenstellenden Ergebnis. Vor ihren
Augen eröffneten sich die Reservate. Ein riesiges, einschüchterndes Tor trat in
ihr Blickfeld.
Der Bus verlangsamte sein Tempo und tuckerte gemütlich auf das
gewaltige Bauwerk zu. Unglaube, offene Münder, sie starrten wie gebannt hinaus
in den Wald, in die Reservate. Eine Mauer, die noch gigantischer war, als alles
was sie je gesehen hatten, säumte das Tor an beiden Seiten und vermittelte den
gewollten Eindruck von Gefangenschaft. Ernüchternd gestand Jay sich, dass eine
Flucht, wie er es geplant hatte, sich als nicht ganz so einfach und problemlos
erweisen würde, wie er gehofft hatte. Das Tor schob sich auf und gab den ersten
richtigen Einblick in das, was sich im Inneren der schützenden Mauern befand,
das Venus-Reservat. Im Grunde glich es der Waldlandschaft, durch die sie zuvor
gefahren waren auf jedes Detail. Doch irgendwie kam es ihnen beängstigender
vor, so ruhig, so dunkel, so gefährlich. Das Tor fiel hinter ihnen wieder zu,
fest verschlossen. Den Blick voller Verlangen schaute Jay zurück auf das Tor,
voller Verlangen nach Freiheit. Schweigen. Keiner wusste, was er sagen sollte.
Ruhig begutachteten alle die verlassene Waldlandschaft. Sie fuhren langsam über
den Waldweg, der immer noch in geregeltem Abstand von den Laternen beleuchtet
wurde. Das verirrte Heulen eines Wolfes durchzuckte die nächtliche Stille und
ließ alle alarmiert mit den Köpfen durch die Luft fahren. Ein paar der anderen
Ropeys erwachten aus ihrem Schlaf. Eine leise Stimme fragte ängstlich:
„War das ein echter Wolf?“
Lucas drehte sich um und erkannt einen kleinen Jungen, der
zurückgezogen auf einer Bank am Fenster kauerte. Er schlich zu ihm und legte
seinen Arm um den Jungen:
„Keine Angst, mein Kleiner. Die Wölfe tun dir nichts.“
„Wann sind wir da?“, fragte der kleine Junge und schluckte, vertrieb
die Tränen der Angst.
„Wir haben schon die Tore passiert. Wir sind jetzt im Venus-Reservat.
Schlaf ruhig weiter, ich wecke dich wenn es etwas Neues gibt. Wir müssen jetzt
erst einmal das Dorf erreichen.“
„Na gut, aber ich glaube nicht, dass ich wieder einschlafen kann.“
Er war kaum älter als 10 Jahre. Seine Gesichtszüge wirkten kindlich. Er
sah erschreckend gefasst aus, doch man spürte, dass er bis auf die Knochen
zitterte. Verängstigt schloss er die Augen und lehnte sich an Lucas starke
Schultern. Schon nach kurzer Zeit war der kleine Junge schon wieder im Reich
der Träume versunken. Lucas blieb immer noch bei dem kleinen Kerlchen sitzen
und streichelte ihm liebevoll durch die karamellbraunen Locken.
„Alles wird gut, mein Kleiner. Alles wird gut“, flüsterte er beruhigend.
„Ich passe auf dich auf.“
Grace blickte zufrieden zu Lucas und dem kleinen Jungen und
Weitere Kostenlose Bücher