Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
wichen aus Olivias Gesicht, sie
nahm Madison herzlich in den Arm und drückte sie fest an ihren Körper.
„Alles wird gut, Madison. Ich bleibe bei dir.“
Ihre Stimme war beruhigend und sanft. Madison kämpfte mit den Tränen.
„Wir gehen nun. Ihr solltet vernünftig sein und uns folgen.“ Mit diesem
Satz drehten sich die Zwillinge in Richtung Norden und stapften über den
feuchten Waldboden.
Grace war sich nicht sicher, welche der beiden gesprochen hatte, da
auch ihre Stimmen nahezu identisch waren. Ihre Kühle und ihre neutrale,
unbeteiligte Ausdrucksweise jagten Grace einen Schauer über den Rücken. Eins
wusste sie, diese Mädchen waren nicht normal.
Es war Isabella. Ceelas Kopf rauschte vor Eindrücken und
Stimmen. Isabellas Stimme war weitaus kühler, als die von Abigail, dennoch
waren ihre Stimmen unverkennbar verwandt. Doch Abigail hatte etwas in ihrer
Stimme, das Isabella nicht hatte. Sie hatte etwas Ahnendes, Vorrausschauendes
in sich, in ihrer Stimme, dass Isabella nicht teilte. Sie war einfach nur
weitestgehend emotionslos. Ceela erschauderte bei dem Gedanken, dass Abigail
vielleicht mehr wusste, als sie sagte. Doch sie wusste, was sie nun tun
mussten! Sie konnten nicht fliehen, das war absurd. Nicht, dass sie nicht schon
selbst mit dem Gedanken gespielt hätte, aber sie wusste, dass es realistisch
gesehen, unmöglich war, zu entkommen. Selbst wenn sie es bis zur Außenmauer
schaffen würden, ohne den Launen der Natur zum Opfer zu fallen, und selbst wenn
sie es schaffen würden, die Mauer zu überqueren, was dann? Die Wüste, das
endlose Ödland, umgab das Venus-Reservat. Sie konnten nicht fliehen. Das stand
fest. Also blieb ihnen keine andere Wahl, als zu dem Platz zu gehen und zu
hoffen, dass sie das, was sie dort erwartete, mit den Hinweisen von Miranda
durchstehen würden.
„Wir sollten auf die beiden hören. Es ist das Beste, ihnen jetzt zu
folgen. Eine Flucht ist ausgeschlossen. Was bleibt uns also anderes übrig?“
Ceela versuchte ihre Stimme neutral zu halten, da sie wollte, dass die anderen
auf sie hörten.
„Du hast ja Recht“, erwiderte Olivia leise.
Die Silhouetten der Zwillinge waren schon gänzlich von den wirbelnden
Blättern verschluckt worden. Die Mädchen gingen vage nach Norden, dorthin, wo
sie hofften, die Zwillinge einzuholen.
Kapitel 20
Friedlich lag der Übungsplatz im Tal. Verträumt schwebten einzelne
Blätter durch die Luft. Die bunten Bäume tauchten das Tal in ein Spiel aus
grünen und braunen Farbverläufen. Sie standen oben auf dem Hügel und blickten
hinab. Der Platz war kein richtiger Platz, mehr eine Art Käfig. Eine breite
Mauer grenzte ein Rechteck ein, in dem keine Bäume standen, komplett abgeholzt
und kahl, über das Rechteck erhob sich ein Gitternetz aus Metallstäben, wie ein
Käfig eben. Die Mädchen schritten einen schmalen Pfad ins Tal hinab. Schweigen.
Sie hatten die Zwillinge nicht eingeholt, sie hatten sie verloren. Mit
schnellem Schritt glitten sie über den Waldboden hinweg und achteten auf jeden
Schritt. Einen Fehltritt konnten sie sich nicht leisten, doch die Wurzeln
ragten gefährlich und tückisch aus dem Boden, als wollten sie nach den Füßen
greifen.
Grace atmete tief ein, dann wagte sie den ersten Schritt aus dem
sicheren Wald hinaus. Auch um den Käfig herum waren in einem Umkreis von gut
zwanzig Metern sämtliche Bäume gefällt. Sofort wurden sie entdeckt. Eine Gruppe
dunkel gekleideter Männer schritt hastig auf sie zu. Am liebsten hätte sie sich
sofort wieder umgedreht und wäre im Wald verschwunden. Doch sie konnte nicht,
sie musste stark bleiben. Sie trat einen weiteren Schritt auf die schnell näher
rückenden Männer zu. Hinter ihr bewegten sich nun auch die anderen Mädchen.
Ceela tastete sich mit den Füßen nach vorne und stellte sich neben Grace. Stumm
warteten sie darauf, bis die Männer bei ihnen ankamen. Sie waren im mittleren
Alter und sahen stark aus. Ihre muskulösen Körper waren in dunkles Leder
gehüllt. Ihre Gesichtszüge waren nur schleierhaft zu erkennen, sie konnten sich
so schnell bewegen, dass Grace sie nicht wirklich erkennen konnte. Ihre Brust
hob und senkte sich unregelmäßig und schnell, ein Zeichen ihrer Aufregung,
ihrer Unsicherheit. Die Männer packten sie am Arm, jedes einzelne Mädchen
umklammerten sie mit einem eisernen Griff, dann schleiften sie sie wortlos in
Richtung Käfig. Der Mann, der Grace am Arm hatte, öffnete mit der anderen Hand
eine Tür, die durch die dicke Mauer führte.
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