Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
sich, sie lief los, suchte nach dem vertrauten warmen
Herzschlag von Jay und seinem einladendem Geruch, der beruhigend und angenehm
war. Dann fand sie ihn, sie spürte ihn auf, wie ein Tier, das war doch krank.
Sie hatte nie einen Vergleich für ihren Geruchssinn und ihr außergewöhnliches
Gehör gefunden, doch jetzt wusste sie es, sie verhielt sich wie ein Tier. Es
schüttelte sie und Kälte durchfuhr sie wieder bei dem Gedanken.
Sie stürmte zu Jay, der weiter hinten in der Reihe, vom Nebel
umschlossen stand. Sie hätte ihn auch nicht sehen können, wenn sie nicht blind
wäre. Doch sie fand ihn und das musste sie auch, sie hatte nicht mehr viel
Zeit. Sie hörte hektische Schritte hinter sich und fuhr, kurz bevor sie ihn
erreicht hatte, erschrocken herum. Grace. Sie nahm ihre Hand und führte Grace
zu Jay. Dann reihte sie sich und Grace wieder ein und flüsterte leise:
„Jay! Bleib einfach stehen. Nicht bewegen, kein Geräusch. Ruhe und
Regungslosigkeit.“ Ihre Stimme war leise und ernst.
Jay nickte stumm. Dann schloss er sich der Ruhe an. Ceela spürte, dass
außer ihnen noch keiner die schattenhaften Wesen entdeckt hatte. Zu leise für
normale Menschen und zu gut getarnt, wenn man nur auf den Boden guckte, keiner
hatte sie beachtet. Sie war aber froh, dass Grace sie gesehen hatte und hoffte
auch, dass die anderen Mädchen sich an die Worte von Miranda hielten. Wenn man
die Wölfe nicht attackierte, dann würden auch sie nicht angreifen, zumindest
glaubte sie das zu wissen.
Der Film von dünnem Angstschweiß auf ihrer Stirn schien sich
auszubreiten. Sie konnte ihre Hände nicht ruhig halten, sie zitterten zu stark.
Hilflos versuchte sie sie hinter dem Rücken zu verstecken, was ihr dann aber
äußerst unbequem vorkam. Außerdem war es besser, die Wölfe sahen ihre Hände.
Dann konnten sie sehen, was sie mit ihnen machte. Aber machten sich Wölfe
überhaupt so viele Gedanken? Waren sie so menschlich oder hatten sie einfach
nur ein Gespür für so etwas? Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Natürlich ruhig, aber durften ihre Hände zittern? Das zeigte Unsicherheit oder
würden die Wölfe die Unsicherheit so oder so spüren, ob sie die Hände sahen
oder nicht, war vielleicht egal. Sie wusste es nicht. Sie hatte Angst, blanke
Angst vor dem Ungewissen, vielleicht auch vor dem Tod. Warum machte man das mit
den Ropeys? Sie verstand es nicht, sie konnte es nicht begreifen. Vielleicht
sollte sie auch besser nicht begreifen…
Die Wölfe waren unbemerkt ein gutes Stück näher gepirscht. Leise und
sanft setzten sie eine nach der anderen der gewaltigen Pranken auf den Boden,
der, aufgrund der Feuchtigkeit, ein wenig nachgab. Auf einmal passiert das
Unvermeidbare. Entsetzt schleuderte einer der Ropeys die Hand in die Luft und
kreischte:
„Da!“
Seine schrille Stimme durchbrach die unheimliche Stille und sein Finger
deutete klar in den schattenhaften Nebel, aus dem die bernsteinfarbenen Augen,
wie Sterne, herausblitzten.
Dann trat das absolute Chaos ein, ja, man könnte sagen das
Unvermeidbare, doch auch die Tatsache, dass es so oder so dazu gekommen wäre,
änderte rein gar nichts an der grausamen Situation. Wie durch einen Weckruf
lösten sich die Wölfe aus dem Schleichmodus und rauschten in unglaublicher
Geschwindigkeit auf die Ropeys zu. Ihre Pranken hämmerten auf den Boden,
Schläge wie Basstrommeln ließen den Käfig erzittern. Schrill und wild
kreischten die Ropeys. Einige drehten sich um und rannten in die
entgegengesetzte Richtung und andere zogen ein verstecktes Stiefelmesser
hervor und stürmten mit barbarischem Geschrei auf die Wölfe zu.
Sie blieb stumm stehen, während das Blut ein Gemälde auf ihre Kleidung,
ihre Haut und ihre Haare zauberte. Eine Schlacht war ausgebrochen.
Angriffslustig jagten die Wölfe den Fliehenden nach. Grace beobachtete die
Situation, die wie ein ferner Traum an ihr vorbeizog. Gebannt verfolgte sie mit
ihrem Blick den jungen Mann, der als erster geschrien hatte, wie er krampfhaft
versuchte vor einem riesigen Wolf zu fliehen. Unmöglich. Nach kurzer Strecke
holte ihn das gewaltige Tier ein und rammte ihm von hinten die bestialischen
Krallen in den Rücken. Mit qualvollen Schmerzensschreien ging der Junge zu
Boden. Aus seinem Rücken quoll Blut und färbte den Waldboden. Der Wolf vergrub
seine Pranken in seinem Opfer und rammte die langen spitzen Reißzähne in den
Arm des Jungen. Panikschreie, Schmerzen. Das Tier riss den Jungen in Stücke wie
ein Blatt
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