Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
Grace konnte einen ersten Blick auf
das Innere des Käfigs erhaschen. In einer kläglichen Reihe standen die Ropeys
auf dem kargen Boden. Es waren Massen an Ropeys, nicht nur die aus ihrem Bus,
dem Bus aus der Hauptstadt des Landes! Nein, es waren Menschen, die auf dem
ganzen Kontinent eingesammelt wurden. Ob nur ihre Gruppe unter ‘Projekt
Gnadenschuss‘ hatte leiden müssen?
Nebel umhüllte sie und schien über dem Boden zu schweben wie ein weißes
Tuch. Grace und die anderen Mädchen wurden zu den Ropeys in die Mitte des
Käfigs gezogen und wurden in die Reihe eingeordnet. Alle Ropeys tuschelten wild
durcheinander. Grace schwieg, Ceela, Olivia und Madison ebenfalls. Doch Grace
beschäftigte sich mit etwas anderem. Sie suchte in der langen Reihe nach den
Zwillingen. Da! Da vorne waren sie! Sie standen stumm in der Mitte der Reihe,
ihre kupferroten Haare schimmerten im Nebel.
Mit einem lauten Ächzen wurden alle Türen geschlossen. Nur noch die
Ropeys standen in dem Käfig. Was geschah hier? Grace Herz hämmerte gegen ihre
Brust. Angst stieg in ihr hoch. Misstrauen. Ihr Atem passte sich farblich dem
Nebel an, sobald er ihre Nase oder ihren Mund verließ. Ihre Hände zitterten.
Ein alter Lautsprecher knatterte. Dann meldete sich eine tiefe Stimme zu Wort:
„Überlebt! Für das Dorf!“
Überleben? Für das Dorf? Wie bitte? Das Dorf wollte sie umbringen!
Grace wusste nicht, ob sie Angst hatte oder ob sie wütend war. Ihre Gefühle
spielten verrückt und sie konnte sie nicht mehr ordnen. Was soll das alles? Sie
musste ruhig bleiben. Sie atmete tief ein und wieder aus. Sie versuchte
innerlich runterzufahren, abzuschalten, sie versuchte einen Neustart. Langsam
ließ sie ihren Blick um sich herum schweifen, dann nahm sie etwas wahr.
Am Ende des Käfigs schob sich ein Gittertor aus der Mauer auf. Sie
versuchte ihre Augen scharf zu stellen. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte
krampfhaft zu erkennen, was da langsam aus dem Tor schritt. Aus dem bleichen
Morgennebel starrten sie eine gewaltige Anzahl bernsteinfarbener Augenpaare an.
Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie begriff, was geschah. Auf ihre Stirn
legte sich ein dünner Schweißfilm. Ihr Zittern wurde fast zu einem Schütteln.
Die Augen starrten sie immer noch an, der Blick fesselte sie und ließ sie nicht
mehr los.
Kapitel 21
Wie dunkle Schatten glitten die Wölfe aus dem Tor hinaus durch den
Nebel. Sie visierten die Reihe von Ropeys an. Das meinte Miranda mit:
Egal was passiert, bleibt stehen!
So langsam begriff Grace, doch warum ließ man Wölfe auf sie los? Was
waren das überhaupt für Wölfe? Normal waren sie nicht. Ihre Augen funkelten
unnatürlich klar und ihr Fell war dunkel und fast zottelig. Sie waren ein gutes
Stück größer als die Wölfe, die Grace im Biologie-Unterricht auf ihrem Nou-Pad
betrachtet hatte. Sie waren riesig. Ihr Brustkorb war breit und sie waren
muskulös, furchteinflößend. Langsam schritten sie immer näher, schritten
unbemerkt, verborgen im Nebel, auf die Gruppe zu. Grace packte Ceelas Hand,
dann flüsterte sie:
„Kein Wort, keine Bewegung! Bleib einfach stehen.“
„Was haben sie da auf uns losgelassen?“, flüsterte sie, als ihr ein
animalischer Geruch in die Nase stieg.
„Wölfe“, hauchte Grace in den Nebel.
Ceela fuhr es eiskalt in den Körper. Die Kälte erfüllte sie, die Angst.
Sie atmete tief ein und aus und versuchte sich ruhig zu halten. Sie durfte
keine Angst zeigen, das würden die Tiere riechen. Auch sie konnte es riechen.
Sie roch, wie die Tiere es taten. Sie roch den Angstschweiß der anderen Ropeys
und dann konzentrierte sie sich auf die Wölfe.
Sie rochen nach Wald, nach dem nassen Boden und der rauen Rinde der
Bäume. Unter diesen Geruch mischte sich etwas undeutliches, ein bitterer,
fürchterlicher Beigeschmack, etwas starkes Animalisches. Der Geruch nach
Hunger, dachte Ceela und bereute, dass sie es gewagt hatte sich darauf zu
konzentrieren. Das half ihr jetzt auch nicht, das machte sie nur noch unsicher.
Sie spürte wie Grace Hand zitterte. Dann blitzte es in ihrem Kopf. Grace
wusste, was zu tun war, doch Jay, die Jungen, sie hatten Miranda nicht gesehen.
Wie würden sie auf die Wölfe reagieren, die langsam und leise, fast unbemerkt,
heranschlichen? Es war noch genug Zeit, die Tiere waren noch weit weg,
vermutete sie. Doch sie wusste, dass sie es rochen. Sie rochen ihre Fährte,
doch das war ihr egal, sie musste zu Jay. Wo war er? Sie ließ ruckartig Grace
Hand los und löste
Weitere Kostenlose Bücher