Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
Zimmer
ein. Milchige trübe Wolken türmten sich im heller werdenden Himmel auf. Der
Nebel verschleierte die Sicht noch dazu. Als Grace sich in ihrem Bett aufsetzte
und aus dem Fenster blickte, sah sie nur verschwommen die Umrisse der dunklen
Bäume, die kerzengerade und schmal aus dem Waldboden ragten. Langsam schlug sie
ihre dünne Leinendecke um und schälte sich aus dem Bett. Sie schlich barfuß
über den alten Holzboden zu ihrer Kommode. Sie streifte ihr dünnes weißes
Nachthemd ab und zog ihre Trainingskleidung an. Behutsam faltete sie den dünnen
Stoff des Hemdes zusammen und platzierte es in einer der Schubladen. Jede Nacht
fror sie unerbittlich, denn die zwei dünnen Lagen aus Leinenstoff halfen ihr
nicht im Geringsten gegen die langsam anrollende Nachtkälte. Doch so war das
Leben hier, sie konnte nicht erwarten ohne Abstriche zu leben.
Ihr geregelter Alltag half ihr einigermaßen über den Verlust ihrer
Schwester hinwegzukommen, doch ein hohler tauber Schmerz blieb eben immer,
wurde zu einer Art Begleiterscheinung, die immer da war, manchmal mehr,
manchmal weniger. Und nachts, wenn sie nicht abgelenkt war, da war es am
schlimmsten. Geplagt von Trauer und auch von Schuldgefühlen, war mit viel
Schlaf nicht zu rechnen. Selbst wenn sie es schaffte endlich einzuschlafen,
wenn auch mit einem tränenverschmierten Gesicht, so wachte sie doch immer
wieder verheult und schweißgebadet auf. Eine Erleichterung, wenn sie endlich
aufstehen konnte. Sie war die Erste, immer. Wach, lange bevor sie wach sein
müsste, lange bevor sie wach sein durfte, um fünf Uhr morgens bedeutete zwei
Stunden bevor sie das Gebäude verlassen durfte. Doch das war ihr egal, es kümmerte
sie nicht, dennoch wollte sie nicht unbedingt erwischt werden, wie sie sich den
Regeln des Lagers widersetzte.
Sie schlich in Richtung des gedämpften Lichts und umfasste die eiserne
Klinke, schob sie nach oben weg und öffnete das Fenster. Sie schwang sich auf
die Fensterbank und setzte sich außen auf den Vorsprung. Behutsam schob sie das
Glas zurück und klemmte sorgfältig einen bereits präparierten Ast so
dazwischen, dass das Fenster zublieb aber von außen immer noch zu öffnen war.
Sie stieß sich mit der Hand ab und schwang sich mit einer eleganten Bewegung
auf den nahegelegenen Ast, klammerte ihre Hand fest darum und hangelte sich in
Stammnähe. Dann begann ihr vorsichtiger Abstieg vom Baum, bei dem sie gekonnt
Äste und Baumlöcher zu ihren Gunsten nutzte. Nur noch einen Meter vom Boden
entfernt löste sie ihre sichere Haltung und sprang ab. Sanft landete sie in der
Hocke und stütze mit der linken Hand auf den Boden. Federnd stellte sie sich
wieder auf und klopfte sich kurz den Schmutz von den Händen, dann ging sie fort
in den Wald.
Der Nebel begrenzte ihr Sichtfeld deutlich, doch sie hatte sich einen
relativ guten Orientierungssinn antrainiert. Zu allen Seiten erhoben sich die
riesigen gerade gewachsenen Stämme der alten Bäume aus dem taufeuchten Boden. An
einigen Stellen lag sogar noch eine dünne glitzernde Frostschicht. Ihre Wangen
färbten sich rötlich wegen der Kälte. Sie spazierte gedankenverloren durch den
Wald, ein Panorama voller intensiv brauner Farben, eine Pracht aus wirbelnden
Blättern, umschlossen und getrübt von milchigem Nebel. Gerüche der feuchten
Erde und der moderigen Stämme, des gefallenen braunen Laubs und die Stille
eines Friedhofs. Die kühle Luft erfrischte sie und es war angenehm, Morgen für
Morgen, aber so war es doch jedes Mal aufs Neue atemberaubend.
Doch sie wurde mit einem Schlag zurück in die Realität außerhalb ihrer
friedlichen Fantasie geschmettert. Stimmen. Nord-östlich von ihr. Das einzige
was da noch lag, war der Übungsplatz. Doch der war ein gutes Stück entfernt, zu
weit, um Stimmen zu hören. Sie blieb kurz stehen und fühlte. Wind. Das war die
Erklärung, der Wind trug die Stimmen zu ihr. Doch wer war so früh am
Trainingsplatz? Eigentlich niemand. Sie bekam ein mulmiges Gefühl und ihr wurde
ganz flau im Magen. Irgendetwas stimmte nicht. Sie entschied sich den Stimmen
zu folgen. Sie beschleunigte, dann joggte sie, glitt behutsam über den Boden,
fand Halt mit ihren Schuhen, wich den lauernden Hindernissen, wie Steinen oder
Wurzeln aus und sprang sogar seitwärts mit einer Hand gestützt über einen
gefallenen Baumstamm, bis sie langsam in die Nähe des Platzes kam.
Das Stimmengewirr wurde lauter, und wieder leiser, bis es ganz
verstummte, nur um wieder loszulegen nach kurzer Stille.
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