Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
ohne welches das Gesamtbild keinen Sinn ergab. Doch sie konnte es
nicht finden, es fehlte.
Warum? Warum habe ich ihn getötet?
Sie wusste es nicht mehr.
„Du bist so tapfer, so tapfer…! Sie lebt noch, du hast es geschafft.“
„Warum…?“ , flüsterte sie kaum hörbar. „Warum habe ich
jemanden getötet, Jay, warum?“
„Weil du sie retten wolltest, und das hast du. Du hast das Richtige
getan, Ceela, das einzig Richtige.“ Er streichelte ihr zerzaustes Haar.
Da kehrten die Bilder zurück, da wusste sie es wieder. Mit einem Schlag
kam alles wieder, jede Erinnerung und sie zogen wie ein Film an ihr vorüber. Es
waren Bilder, die ihre Fantasie erschuf, aus den Gerüchen, Geräuschen und ihren
Gefühlen, aus allem was sie wahrgenommen hatte. Daraus entwickelten sich
Bilder, Filme, Szenen erfüllt von ihrer grenzenlosen Vorstellungskraft.
„Wie geht es ihr?“, hauchte sie leise und ausgelaugt.
„Es geht ihr sehr gut. Willst du zu ihr?“
Sie nickte, doch auch dieser kleinen Bewegung bedarf es einen großen
Kraftaufwand, und sie war schwach, sehr schwach, so wurde das Nicken winzig und
verschwommen. Doch er verstand.
„Ich geh sie holen, bin gleich wieder da“, rief er ihr im Fortgehen
noch zu. Er presste immer noch die flache Hand auf seine Kopfwunde, um die
Blutung zu stoppen.
Sie freute sich auf Grace, wollte sich ein wenig aufrichten, doch ihre
Glieder zitterten so abartig stark, dass sie keine Kontrolle über ihren Körper
hatte und jeder Versuch vergeblich war. Ihre Arme knickten weg, ihre Knie waren
so weich wie Kaugummi und sie fand einfach keinen Halt.
Was ist los mit mir? dachte sie noch und dann spürte sie die
beiden kommen, also blieb sie einfach so liegen, sie wollte nicht, dass sie
sahen, wie schlecht es ihr ging.
Zwei dünne Arme umschlangen ihren Oberkörper. Wärme, Nähe. Sie hörte
Graces rasendes Herz und fühlte wie aufgewühlt sie war, doch sie war glücklich.
„Danke. Danke, Ceela.“ Grace leise Stimme drang nur gedämpft in Ceelas
Kopf ein.
Dieses Opfer war es wert. ,dachte sie. Es war nicht
richtig einen Menschen zu töten, das ist es nie, doch es war der Richtige, der
gestorben ist. Entweder Grace oder er und Grace, sie hatte es verdient zu leben.
Kapitel 34
Zwei Monate waren nun vergangen, in denen sie mit ihrem neuen Leben
mehr oder weniger klarkam. Zwei Monate, in denen sie bis aufs Letzte kämpfte.
Zwei Monate, in denen sie enorm stärker wurde, in denen sie lernte, wie man mit
Waffen umging, und wie der Kampf am effektivsten war, strategisches,
lehrreiches und körperliches Training war die Tagesordnung. Theorie und Praxis.
Sie wurde unterrichtet über Kräuter und deren heilende Wirkung oder deren Gift,
über Kampftechniken des Nahkampfes, über Kämpfe aus weiterer Entfernung,
Waffen, Ladehemmungen, Gefahren, über alles Wissenswertes. Zwei Monate, in
denen sie durchkam, in denen sie, Jay und Grace überlebten und im Lager bleiben
durften.
Zwei Monate, in denen sie sich immer noch zu gut erinnern konnte, die
einzige, die sich an die wahren Ereignisse des zweiten Tages nach der Ankunft
erinnerte. Zwei Monate, in denen sie viel über die anderen Ropeys lernte, sie
analysierte. Sie war die einzige, die das tat. Doch manchmal, da stellte sie
Erstaunliches fest, zum Beispiel, dass Jay erschreckend viel über Waffen und Nahkampf
wusste, fast mehr als ihr Lehrmeister. Oder, dass Grace aufgehört hatte ihrer
Schwester nachzutrauern, was bemerkenswert schnell ging, was nicht hieß, sie
hätte sie vergessen, sie hatte nur endlich mit ihrer Vergangenheit
abgeschlossen.
Zwei Monate, die ihr wie ein ganzes Jahr vorkamen, doch immer noch war
eine Sache gleich geblieben, hatte sich nicht dem Strom der stetigen
Veränderung angepasst: Die Nächte. Sie träumte. Das Gleiche, Nacht für Nacht
und es wurde nicht besser. Das Blut, die Leichen, die Wölfe. Die Tage wurden
von Nächten abgelöst, ihre harte grauenvolle Realität wurde von nicht weniger
brutalen Alpträumen abgelöst. Immer wieder, Nacht für Nacht. Ihr Leben war der
blanke Wahnsinn, die schrecklichen Eindrücke der letzten paar Monate hätten für
neun ganze Leben ausgereicht. Doch das gewährte man ihr nicht, denn es war noch
lange nicht vorbei, es war noch lange nicht zu Ende, sie würde kämpfen müssen
bis zum Schluss und sie musste damit klarkommen, denn der Schluss, das Ende,
war noch lange nicht in Sicht.
Kapitel 35
Das fahle Morgenlicht drang durch die großen Bogenfenster in ihr
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