Die Verstummten: Thriller (German Edition)
wurde. Er ging nach unten. Da sie beide keine Schutzkleidung trugen, vermieden sie es, das Schlafzimmer zu betreten. Im Türrahmen stehend prägte sich Carina für ihr inneres Archiv alles ein. Minutiös leuchtete sie den Raum aus, als schwebte sie unter der Zimmerdecke, betrachtete alles aus Elsterperspektive bis hinein in den Flor des Teppichs. Noch war es ruhig. Kein Verdacht geäußert, keine Vermutung aufgestellt. Das Dreieck zwischen dem Täter, den Opfern und ihr, die durch die Leichenschau und später die Obduktion mithelfen würde, den Fall aufzuklären, war noch unberührt.
Jede Falte im Bettzeug, ebenso die Art, wie die Decke auf den Oberkörpern lag, registrierte sie. So deckte man sich nicht zu, wenn man zu Bett ging oder fror. Das hier wirkte, als hätte jemand etwas verdecken wollen. Die Neigung der Köpfe. Jakob Loos, seiner Frau zugewandt, vielleicht hatte er sich im Sterben gedreht, vielleicht hatte ihn auch der Täter so hindrapiert. Carina bemerkte die kleine, kreisförmige Wunde in Jakobs Stirn, die auf eine Schussverletzung hindeutete. Woran Olivia gestorben war, konnte sie von der Tür aus nicht erkennen. Ihr Kopf lag auf ihrer rechten Schulter, so als sei sie zusammengesunken. Die Mundschleimhaut hinter ihren leicht geöffneten Lippen war zu einem schmalen Saum vertrocknet. Im Mundwinkel klebte ein rosa Spuckegerinnsel. Für einen Doppelmord war das Zimmer erstaunlich sauber. Keine Blutspritzer an der Wand, den Bettpfosten oder dem Boden. Auch nicht auf den übrigen Möbeln, zwei Schränken und einer Kommode, bei der die mittlere Schublade etwas vorstand, so als wäre sie eilig hineingeschoben worden und hätte sich verkantet. Auf Olivias Nachtkästchen lag ein zerfleddertes Taschenbuch, dessen Titel sie nicht entziffern konnte. Außerdem trug die Tote nur einen Schuh. Carina bückte sich und sah unters Bett, ob der zweite darunter lag. Unter Olivias Seite hatte sich ein dunkler Fleck ausgebreitet, und beim Bettpfosten lag etwas im Teppich, das eine kleine Gurke, ein Tampon oder eine Patronenhülse sein konnte. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Ein Paar, das der Tod geschieden hatte, auch wenn ihre Leichname nebeneinanderlagen. Hatten sie beschlossen, ihrem Leben gemeinsam ein Ende zu setzen? Wenn ja, was hatten sie sich im Moment davor gesagt, mit welchen Worten sich aus dieser Welt verabschiedet, in der Hoffnung auf ein Wiedersehen? Polizeisirenen ertönten und kurz darauf Stimmengewirr unten im Haus. Matte gab der Spurensicherung Anweisungen. Carina richtete sich wieder auf und konzentrierte sich erneut auf Olivia. Ihr rechter Arm hing aus dem Bett, und ihre Hand wirkte, als trüge sie einen rotvioletten Handschuh. Die Fingerbeeren und Nagelbetten waren noch dunkler verfärbt. Totenflecken. Ihr Zeigefinger war von der Hand abgespreizt und berührte den Teppich. Ein heller Fahrer im dunklen Flor. Olivia hatte noch etwas hineingekratzt. Das musste sie unbedingt festhalten. Ein verschnörkeltes Zeichen – oder waren es richtige Buchstaben? Sie hörte Schritte auf der Treppe und zog ihr Handy heraus, um die Stelle im Teppich zu fotografieren. Etwas stieß sie zur Seite, Carina fing sich an der Wand ab, aber das Handy fiel zu Boden.
»Oh, Verzeihung, ich hab dich gar nicht gesehen.« Verena Thiel, Vincents neue Kollegin von der Spurensicherung, voll bepackt mit ihrer Fotoausrüstung, hatte ihr Stativ ausgefahren. »Geht’s? Hab ich dir wehgetan?« Sie wuselte um sie herum.
Carina schüttelte den Kopf. Ihr fehlte nichts. Sie spähte auf den Teppich. Unter Olivias Hand waren nur noch helle Schuhabdrücke zu sehen, so als hätten die Zeichen nie existiert.
8.
München-Schwabing, vier Monate vor dem Ursprung
Es war nichts Ungewöhnliches, dass Gloria Schwalbe ins Hospiz gerufen wurde. Meist wollten Angehörige eines Verstorbenen letzte Dinge besprechen. Doch diesmal verlangte der Sterbende selbst nach ihr, um seine Beerdigung zu regeln.
»Meier mit ei?«, fragte sie, als sie in dem lichtdurchfluteten Wohnhaus am Rande des Englischen Gartens mitten in München eintraf und die vielen Namensschilder an den Türen las. Sie musste an einen Sketch von Karl Valentin denken. Mair, Mayer, Meir, da gab es einige Varianten. Und bevor sie alles absuchte und irgendwo störte, fragte sie lieber jemanden vom Pflegepersonal.
»Wir haben momentan nur einen Bewohner mit diesem Namen«, erklärte eine Pflegerin und begleitete Gloria den Flur entlang.
Bewohner nannten sie die Leute hier, dachte Gloria, so
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