Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Vierzehnjähriger einfach nicht erfasst, nur das Gemeinschaftsgefühl genossen und dass man durch Leistung aufsteigen konnte. Leider führte er das dann bei seinen Söhnen fort.« Sie strich über das Buch. »Victor hat sich sehr für meine Arbeit interessiert, er unterstützte mich darin weiterzumachen. Momentan recherchiere ich an einer Sache, in die das BKA verwickelt ist. Kurt Krallinger, der seine Geliebte ermordet und dann in der Isar versenkt hat, haben Sie davon gehört?«
»Ich hab’s in der Zeitung gelesen.«
Olivia sah auf die Uhr. »Aber ich halte Sie da mit Dingen auf, die gar nichts mit der Beerdigung zu tun haben.« Sie zupfte an einer gewellten Ecke des Buchs herum. »Ich glaube, ich behalte es doch lieber – als Erinnerung.«
Im Ausstellungsraum zeigte Gloria die Modelle der Aschekapseln und Überurnen. Die Särge würden, wie bei einer Feuerbestattung üblich, aus schlichter Kiefer sein und die Verstorbenen einfache Totenhemden tragen. »Die Asche Ihrer Schwiegereltern darf nicht zusammen in eine Kapsel, das geht in Deutschland leider nicht. Aber wenn Sie möchten, können Sie die Asche in einer Doppelurne, die über die Kapsel gestülpt wird, beisetzen.«
Olivia entschied sich für eine getöpferte Doppelurne in Form eines Tropfens, der in der Mitte durch eine kleine Treppe geteilt war. Dazu gehörte ein Kerzenhalter, der die Stufen nach oben beleuchtete.
Wenige Minuten nachdem sich Olivia Loos verabschiedet hatte, tippte Gloria den Auftrag in den Computer und schickte ihre Anweisungen an die Mitarbeiter, die Friedhofsverwaltung und das Krematorium. Als sie das Teegeschirr im Erkerzimmer aufräumte, lugte sie aufs Fensterbrett. Der Keks war weg, vielleicht hatte ihn sich die Elster geholt, still und heimlich. Gloria schwitzte, sie öffnete den obersten Blusenknopf. Der Wenn-wir-Kurti. Wahrscheinlich leuchtete ihr Hals gerade wie Krallingers Feuermal. Auf dem Tisch lag das Buch, Olivia hatte es vergessen. Gloria wollte es zu den Leichenschaupapieren legen und warf einen flüchtigen Blick darauf. Sie hatte mit einem hochliterarischen Titel gerechnet, vielleicht Gedichte oder Goethe oder irgendwas in der Art, doch da stand The Green Mile, von Stephen King. Ein englischer Roman? Sie schlug eine Seite auf und las ein paar Zeilen, es war auf Deutsch und nahm sie sofort gefangen, als wäre es für sie geschrieben worden. Diese Journalistin kratzte an der Panzertür ihrer Seele.
Ich leide immer wieder an Schlaflosigkeit … und so versuche ich, für die schlaflosen Nächte eine Geschichte parat zu haben. Ich erzähle sie mir selbst, während ich in der Dunkelheit liege … Jede Nacht fange ich wieder von vorne an … aber es ist beruhigend und als Zeitvertreib allemal besser als Schafe zählen.
6.
Sie spazierte durch die Straßen, setzte sich auf die zerknitterte Mauer, die unter ihr einsackte, und ließ die Beine überm Abgrund baumeln. Über sich das Laternenpapiermuster der Häuser. Auf einmal liefen die Dächer über, als würde die Sonne schmelzen, und aus den Fenstern tropfte Blut.
Ihr Papa behauptete immer, man würde von etwas träumen, was man kannte. »In veränderter Form zwar, aber du bist schon mal dort gewesen.«
Doch wann war sie durch diese Stadt gegangen, hatte die Spitztürme angefasst, sich vielleicht daran gestochen? Und wann hatte sie in dem weißen See unterhalb der Schlucht gebadet, der nach Katzenmilch roch?
»Vielleicht kennst du sie aus einem Buch oder von Fotos, oder sie ist aus vielen Bildern wie ein Puzzle zusammengesetzt. Wie heißt sie denn, deine Stadt?«
Weder die Farbe des ersten Buchstabens noch das Wortbild fielen ihr ein, sobald sie aufgewacht war, doch sie würde es herausfinden. Jedes Mal vorm Einschlafen beschloss sie an den Stadtrand zu laufen, bis zum Schild mit dem Namen, oder einen der Einwohner zu fragen. Aber sie fand nie ans Ende der Straßen, und ihr begegnete niemand. Stets umgab sie ein Knistern, als blätterte jemand hinter ihr in einer Zeitung, doch wenn sie sich umwandte, war sie allein.
Als sie die Augen aufschlug, glaubte sie noch zu träumen, so stark war der Geruch nach Frischgedrucktem. Vielleicht hatte sie endlich eines der Häuser betreten. Die Möbel glichen den ihren, waren aber etwas anders gestellt, gedrängter, vielleicht war das Zimmer eingelaufen. Sie behielt den Schrank im Blick, womöglich ruckte er gleich einen Schritt auf sie zu oder kippte, wenn sie blinzelte. Das Regal hing tiefer über dem Schreibtisch. Baby Lou und
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