Die Verstummten: Thriller (German Edition)
habe ich mir anders vorgestellt.«
»So? Wie denn?«
»Na ja, irgendwie förmlicher, nicht so gemütlich; und ich dachte, dass ich mit einem Mann reden würde, der hinter einem Schreibtisch sitzt. Arbeiten Sie nicht mit Computer?«
»Doch, aber für den Anfang reichen mir ein paar Notizen.« Sie schlug ihre Schreibmappe auf und nahm die Personalien der Schwiegereltern auf, die vor zwei Tagen tödlich verunglückt waren und im Kühlraum nebenan lagen. Als sie nach Feuer- oder Erdbestattung fragte, zückte Olivia Loos ihr Handy, um sich mit ihrem Mann und ihrem Schwager zu beraten. »Die beiden haben mich geschickt, als könnte das hier nur von einer Frau erledigt werden.« Sie holte tief Luft, steckte das Handy wieder ein. »Also werde ich auch allein entscheiden. Meiner Schwiegermutter hätte ein pompöses Grab vielleicht gefallen, aber Victor, meinem Schwiegervater bestimmt nicht. Zwei Urnen in einer Nische, das wäre in seinem Sinn gewesen … also, ich bin für Einäscherung.«
Gloria notierte den Wunsch, bat um ein Foto für die Sterbebilder und fragte nach einem letzten Gedicht oder Gruß, den sie dazudrucken sollten.
Olivia überlegte. »Darf man was mit in den Sarg legen?«
»Eigentlich ist das nicht erlaubt. Nicht mal in den eigenen Kleidern darf feuerbestattet werden, weil die meisten Fasern Chemikalien enthalten.«
»Auch kein Buch? Ich meine, das ist doch aus Papier und verbrennt.« Olivia zog ein zerfleddertes Taschenbuch aus ihrer Handtasche, dessen Cover so abgegriffen war, dass man den Titel kaum lesen konnte. »Und es ist nicht irgendein Buch, sondern Victors Lieblingsbuch. Ich dachte mir, meine Schwiegereltern wollten es vielleicht bei sich haben, auf ihrer letzten Reise.« Ihre Lippen zitterten. Tränen tropften auf den Umschlag. »Victor hat uns oft seine Lieblingsstellen daraus vorgelesen. Mein Mann, Jakob, also … « Sie schnäuzte sich. »Das Verhältnis zu seinem Vater war schwierig. Victor hat seine Söhne nur gelobt, wenn sie vorzeigbare Leistungen erbrachten. Jakob ist auch Architekt geworden wie sein Vater, aber egal welchen Auftrag er erhielt, er stand immer in seinem Schatten. Stellen Sie sich vor, als Neugeborene hat Victor seine Söhne nicht mal in den Arm nehmen können. Aus Angst, er würde sie fallen lassen, jedenfalls hat er mir das anvertraut, als ich ihm Enrico, meinen Sohn, kurz nach der Geburt gereicht habe. Da hat er so gezittert und geweint. Häuser hat Victor gebaut, verschachtelte Konstruktionen, aber ein Kind war ihm zu zerbrechlich. Viel Zärtlichkeit hat es in ihrer Ehe nicht gegeben. Aber geliebt haben sie sich, auf ihre Weise. Ich mochte beide; und ich bin als Einzige Victors Gedankengebäuden gefolgt, wie ich seine Ausführungen nannte. Alles baut aufeinander auf, dieser Satz passt zum nächsten wie Ziegelsteine, nichts wurde einfach so ausgesprochen. Ich hab ihm auch dann noch zugehört, wenn alle, selbst seine Frau, genervt waren und gingen. Victor und ich haben stundenlang über alles Mögliche gesprochen. Er hat mir auch zugeredet, an meinen Geschichten dranzubleiben.« Sie wischte sich die Augen.
»Was für Geschichten denn?« Gloria fragte selten nach, ließ die Angehörigen einfach reden. Normalerweise interessierten sie weder die Todesursache noch die Familienverhältnisse. Doch Olivia rührte etwas in ihr an, das sie an ihre eigene Familie erinnerte – falls es so etwas jemals gegeben hatte.
»Ich arbeite freiberuflich, unter anderem im Recherche-Ressort des Münchner Tagblattes; mich beauftragen die Kollegen, wenn sie tiefer in ein Thema einsteigen wollen. Oder umgekehrt, manchmal stoße ich auch auf etwas und schreibe es auf.«
Gloria legte ihren Kugelschreiber zur Seite und lehnte sich zurück.
»Entschuldigen Sie, das hier ist nicht der Ort, um über mich zu sprechen.« Olivia trank ihre Tasse leer.
»Ich finde schon.« Quellen zu studieren war auch einmal ihr Job gewesen. Diese Journalistin erinnerte sie an sich selbst, allerdings war Gloria damals jünger gewesen, vielleicht zu jung. »Über was schreiben Sie denn? Erzählen Sie doch ein bisschen, wenn Sie mögen.« Gloria schenkte ihnen beiden nach.
»Mich interessieren die Folgen einer Tat. Wie lebt man damit? Als Täter oder als Opfer. Wie wirkt sich das auf das weitere Leben aus – und auch auf das der nächsten Generation, der Kinder. Mein Schwiegervater war in der Hitlerjugend, sagte sogar, das sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen. Die Ideologie dahinter hat er als
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