Die Verstummten: Thriller (German Edition)
hatte jede Institution ihre Eigenheit. Erst Patient im Krankenhaus, dann Bewohner im Hospiz, und bei den Schwalbes hieß es dann Verstorbener.
»Dafür haben wir zweimal Schmidt, besser gesagt hatten , Frau Schmidt ist heute Nacht gestorben.« Vor einer Zimmertür lag eine Rose auf dem Boden, und daneben stand eine brennende Kerze. »Damit wissen die Besucher und auch das Personal gleich, dass hier jemand von uns gegangen ist.« Die Frau blieb vor der nächsten Tür stehen. »So, hier ist Herrn Meiers Reich. Als Folge seiner Krebserkrankung leidet er an einer Stimmbandlähmung, also haben Sie bitte Geduld mit ihm. Wenn Sie Hilfe brauchen, können Sie mich jederzeit holen. Ich bin am Ende des Ganges, rechts, die letzte Tür, dort haben wir ein Kind … « Sie brach ab, zurrte ihren Schal fester um den Hals, schob die Hände in die Strickjacke und lief mit gesenktem Kopf weiter. Der Umgang mit dem Tod war auch für die, die ihm alltäglich begegneten, nicht immer leicht.
Die drückende Hitze einer bullernden Heizung empfing sie. Auf den ersten Blick glaubte Gloria, das Bett im Meier-Zimmer sei leer. Kaum eine Erhebung war unter der Decke auszumachen. Bunte Wollsocken, die am Fußende an die Bettwand stießen, und ein kahler Kopf mit großen Ohren auf den Kissen verrieten, dass hier ein Zweimetermensch lag. Die Haut gelb wie die mit Pusteblumen bedruckte Bettwäsche. Vermutlich gab es nicht nur eine Bestatterindustrie, sondern auch ein Hospizbedarfsgeschäft, dachte sie. Vom Tod leben.
Sie trat näher und erschrak. Nichts wie weg, war ihr erster Impuls. Doch sie verharrte, konnte sich nicht von dem Anblick lösen. Hier starb einer von jenen, denen sie den Tod gewünscht hatte. Noch atmete er, ganz leicht hoben und senkten sich die Pusteblumen. Hoffentlich litt er Höllenqualen, sie fühlte sich augenblicklich in die Zeit vor über zwanzig Jahren zurückversetzt, als sie noch eine andere gewesen war. Wie konnte es sein, dass innerhalb eines Tages alle Jahre in sich zusammenfielen und sich in einem einzigen Augenblick bündelten?
Der Riese – oder vielmehr sein Schatten – lag vor ihr. Er, der sich so häufig unter Türen hindurchgeduckt und auf alle herabgesehen hatte, dass er einen krummen Hals bekam. Sie bräuchte ihm nur Mund und Nase zuhalten, vermutlich nur ganz leicht, und es wäre vorbei mit ihm. Aber nein, sie würde sich nicht die Finger schmutzig machen, noch hatte er sie nicht erkannt. Sie wandte sich zum Gehen.
»Bleib.« Es war mehr ein Hauch als ein Wort, ein Geräusch wie aus einer alten Lautsprecheranlage. Vielleicht hielt er sie für eine Pflegekraft. Sie würde Michael anrufen und herschicken, damit er an ihrer Stelle die Formalitäten aufnahm.
»Setz … dich.« Er quälte sich von Atemzug zu Atemzug.
Ihr Puls raste. Calimero alias Claudio Meier. Damals hatte sie sich gefragt, warum er ausgerechnet diesen Namen gewählt hatte. Wie eine Zeichentrickfigur, ein schwarzes Küken mit Eierschale auf dem Kopf sah er nicht gerade aus. Er hatte also einfach die Buchstaben seines echten Namens, wenn es denn sein echter war, durcheinandergewürfelt. Sie sah ihn augenblicklich wieder vor sich, den Tüftler, immer einen Kugelschreiber in der Hemdtasche, falls er einem Rätsel begegnete. Mit einem schnellen Griff zog sie den Stuhl zu sich heran, weit genug weg von seinen dürren Klauen, und setzte sich auf die Kante. War das ein Kichern, was er da probierte? In jedem Fall hörte es sich eher an wie das Rasseln von Knochen, die aneinanderrieben.
»Komm nä…her.«
Der alte Trick, Rotkäppchen war auch darauf hereingefallen. Calimeros Hände unter der Decke konnte sie nicht ausmachen. Sie klammerte sich am Stuhl fest, sprungbereit, falls er gleich eine Waffe zog.
Stille, nur die Heizung rauschte. Sie glaubte, er wäre eingeschlafen, aber plötzlich schnellte sein Kopf vor, die gelben Augen drohten ihm aus den Höhlen zu kullern.
Er hustete. »Bestah…tterin, perfeh…kt. Als Gloh…ria Schwah…lbe hast du zu…ge…legt, ah…ber das steht dir. Auch wenn dir … « Wieder ein Husten. »Der Reh…gen…man…tel nicht mehr pas…sen wird.«
Wollte er sich mit ihr etwa über ihr Gewicht unterhalten?
Er keuchte, hustete, würgte die Worte hervor. Auf dem Nachttisch stand ein Becher mit Strohhalm, dessen Inhalt ihm wahrscheinlich Linderung bringen könnte.
»Wassh…er, bih…tte.«
Sie ließ ihn husten.
»Damah…ls, im Schweden…häuschen.« Blut rann ihm aus den Mundwinkeln und tränkte das
Weitere Kostenlose Bücher