Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Delphi lagen nicht im obersten Fach. Bestimmt beschwerten sich ihre Puppen und Stofftiere, an den falschen Platz geräumt worden zu sein. Zusammengeknickt, durcheinandergewürfelt, verkeilt, umgedreht, von jemandem, der in ihnen nur Stoff und Plastik sah. Frau Velic, die Putzfrau, machte das nie. Sie mochte Puppen, sprach sogar mit ihnen, wenn sie sie hochhob und darunter Staub wischte.
Dabei hielt sie doch immer Ordnung, jedes Ding hatte seinen unverrückbaren Platz. Außer Mama und Frau Velic durfte keiner in ihr Zimmer, auch Sara nicht. Sie spielten überall sonst im Haus. Mama erlaubte es. Nur wenn sie zu laut waren, zu viel auf dem Sofa herumhopsten oder zu lange fernsahen, dann mussten sie raus, in den Garten oder die Garage.
»Was ist in deinem Zimmer so geheim«, hatte Sara schließlich gefragt, »dass du es mir nicht zeigen willst?« Erst als sie einmal kurz hineindurfte, gab sie Ruhe, wirkte aber ein bisschen enttäuscht. »Ein Bett, ein Schrank, ein Regal, ein Schreibtisch. Ist das alles? Ich dachte, du hast einen Müllberg oder einen Tümpel, wo man einsinkt, oder wenigstens einen Haufen Dreckwäsche rumliegen.«
Jetzt war nicht mal Spielzeug zu sehen und auch keine Bücher. So viele besaß sie zwar noch nicht, auch am Ende der dritten Klasse tat sie sich mit dem Lesen schwer. In den Schulbüchern waren die Buchstaben alle schwarz oder in einer anderen falschen Farbe. Sie hielt, was ihr einfiel und was sie erlebte, in bunten Mustern fest wie in einem Tagebuch. Die Bilder brauchte sie nicht zu verstecken, ihre Eltern konnte sie nicht deuten, das hatte sie einmal ausprobiert und ihre Mutter gefragt, ob sie erkennen könnte, was sie gezeichnet hatte. Mama schüttelte den Kopf. Während sie es ihr erklärte und auf die einzelnen Bilder deutete, notierte sich Mama mit Bleistift alles an den Rand, als würde sie mit ihren Bildern so eine Art Chinesisch oder Krixelkraxel fabrizieren, das man sich unmöglich merken konnte. Damit wusste sie, wenn sie es nicht verriet, blieb, was sie festhielt, geheim. Am liebsten wäre sie gleich aufgesprungen und hätte, was ihr passiert war, aufgezeichnet. Aber ihre Arme gehorchten ihr nicht, das musste am Traum liegen, da bewegte man sich ja oft so merkwürdig – und jetzt eben gar nicht. Sie konnte sich auch kaum hören, so als wäre ihr Körper gar nicht vorhanden, sie war nur Gedanke und Augen. Sie versuchte an sich entlangzusehen. Unter ihrer Nase fing die Patchworkdecke an, die hob und senkte sich, wenn sie atmete. Alles schmeckte blau, wie die Straße, auf die die Schatten gefallen waren. Vielleicht war das Knistern im Traum gar kein Papier gewesen, sondern die Zwiebelhäute, in die sie sie gewickelt hatten? Ob ihre Beine übereinandergeschlagen waren oder im Schneidersitz verschränkt, wie sie es oft zum Einschlafen im Bett machte, spürte sie nicht. Ihr Kopf drehte sich nicht, so sehr sie es auch wollte. Sie versuchte mit der Nase zu wackeln, aber nichts rührte sich. Im Haus war es still. Keine alte Klaviermusik, die dunkelrot klimperte und aus Ecken bestand, drang aus Papas Arbeitszimmer zu ihr herauf, auch kein spiralnudeliges Radiogedudel aus der Küche. Doch da war etwas, das roch wie ein Mückenstich, rosagelb und laut.
Sie versuchte ihre Zunge zu bewegen. Lahm, ganz langsam, wie eine Winterschnecke, die in der Sonne auftaute, schaffte sie es, sich über die Lippen zu lecken. Sie schmeckte Blut. Da fiel es ihr wieder ein.
Vielleicht träumte sie gar nicht, dachte sie noch und tauchte einen Zeh in den Katzenmilchsee.
7.
»Zwischen den durcheinandergeworfenen Sachen in dem Mini Cooper lagen ein Laptop und eine Pistole, vermutlich eine Glock«, sagte Carina.
»Warum erfahre ich das erst jetzt?« Ihr Vater funkelte sie an. »Ich hab dich doch gefragt, ob da noch irgendwas war.«
»Irgendwas? Du hast mich gezielt nach seinen Papieren gefragt, und ich hab dir gesagt, dass ich weder in den Jackentaschen des Verletzten noch sonst wo gesucht habe.« Sie fand das Ganze selbst etwas peinlich. Sie hatte es ihm sagen wollen, als der Hubschrauber landete, aber er hatte nicht mehr zugehört, und danach war es ihr entfallen. Die Fakten hatte sie wahrgenommen, aber nicht interpretiert, so machten es Rechtsmediziner eben. Und außerdem, wer rechnete schon damit, dass hier anstelle von besorgten Eltern zwei Tote lagen?
Übers Handy verständigte Matte seine Kollegen und bat sie, sich darum zu kümmern, dass der Geisterfahrerwagen in die technische Abteilung gebracht
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