Die Verstummten: Thriller (German Edition)
eingepasst, damit sie auf einer waagrechten Fläche arbeiten konnte. Sie wischte ein paar Staubflusen vom Glas und legte den Umschlag ab. Für Carina war es der schönste Schreibtisch der Welt.
Siebzehn Uhr dreiundfünfzig zeigte die große Quarzuhr in Form einer übergroßen Pille, einem Werbegeschenk eines Pharmavertreters. Ein gescheiterter Versuch, Leichen brauchen keine Medikamente mehr. Das Gutachten würde sie morgen Vormittag lesen und den Samstag bis zu dieser Mittagesseneinladung ihres Vaters dazu nutzen, das ein oder andere hier auszuräumen. Eigentlich hatte sie keine Lust auf eine Auseinandersetzung im Hause Kyreleis. Lieber hätte sie mit Silvia und Matte ganz gemütlich gespeist; diese Vorstellung gefiel ihr, trotz allem. In Gedanken war es eben leicht, das Unangenehme wegzufiltern und sich ein Zusammensein mit Zuhören und Erzählen vorzustellen.
Das Institutstelefon klingelte und zeigte eine Nummer, die sie auswendig kannte. Sie zögerte dranzugehen, der hatte ihr gerade noch gefehlt. Erst beim achten Läuten hob sie ab.
»Hallo, Carina.« Clemens mit seiner Schmelzstimme.
Ihr Herz raste, so sehr sie auch dagegen ankämpfte. Sie brachte keinen Ton heraus. Was sollte sie auch sagen? Das letzte Mal hatte er sie mit seinen Eheproblemen zugelabert.
»Schön, dich atmen zu hören. Wie geht’s dir?«
Meine Mutter ist nicht meine Mutter, ich habe einen Doppelmord obduziert, ach ja, und kurz davor bin ich dem Tod selber noch von der Schippe gesprungen. Carina schluckte all das hinunter und presste stattdessen ein lahmes Gut heraus. Sie vermied es, ihn dasselbe zu fragen; sie wollte lieber nicht wissen, ob er noch mit seiner Exfrau badete.
»Ich vermisse dich.«
Wobei? War ihm vielleicht die Badeente abgesoffen?
»Gib mir noch eine Chance, bitte. Wir treffen uns und reden über alles, ja? Heute Abend, wenn du Lust hast, wir könnten vegetarisch essen.«
Carina zögerte. Ihr Magen knurrte, seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, und eigentlich hatte sie am Abend auch nichts vor. Sie kramte in ihrer Tasche, fand einen Müsliriegel und einen Apfel. »Ich kann nicht.« Sie biss in den Apfel und saugte den Saft ein, der ihr am Handgelenk hinunterlief.
»Was? Ich versteh dich kaum.«
Sie war einfach zu müde, um sich seine Rechtfertigungen anzuhören – wenn es denn welche gab. Aber vielleicht sollten sie wirklich mal miteinander reden, morgen oder übermorgen, alles aus der Welt schaffen, was sie belastete. Und so ein Treffen, ganz unverfänglich, würde sie auch von der Familie Kyreleis und ihrer wahren Herkunft ablenken, oder wie auch immer sie dieses Vakuum, in dem ihr Vater sie seit Wochen beließ, nennen sollte. Sie schluckte das Apfelstück hinunter. »Meinetwegen am Sonntag, zu einem Spaziergang«, schlug sie vor.
»Einverstanden. Und wo?«
Sie überlegte. Auch wenn er sie dort zum ersten Mal geküsst hatte, bot sich der Englische Garten durchaus an: Im Hochsommerbetrieb und Biergartengetümmel konnten sie vielleicht einfach einen Kaffee trinken und reden. Sie wischte ihre Zweifel beiseite. »Um drei am Chinesischen Turm.«
Samstag
Vierundzwanzig Stunden nach dem Ursprung
Sollten sie mir die Welt verweigern,
würde ich eben entwischen und sie suchen.
Antonio Skármeta
15.
In der Nacht fand Carina nur schwer in den Schlaf, zu viele Gedanken umkreisten sie, wie nicht zu Ende gesprochene Sätze. Irgendwann schlief sie dann doch ein, und als sie erwachte, wusste sie weder, welcher Tag heute war, noch wo sie sich befand. Einen Moment lang glaubte sie sogar, noch in Mexiko zu sein. Warme Luft strömte durch das geöffnete Zwiebelturm-Erkerfenster ihrer Dachgeschosswohnung, und die Laute, die von der Straße heraufdrangen, hätten auch spanische Wortfetzen sein können. Allerdings fehlten das vielstimmige Hundegebell und das Dauergehupe. Tramgebimmel verriet ihr, sie war eindeutig in München, wo der Verkehr ohne besondere Geräusche vorbeirauschte, die Haustiere registriert waren und hinter verschlossenen Wohnungstüren gehalten wurden. Sie drehte sich auf die Seite und zuckte zusammen, als sich die Beule an ihrer Schläfe bemerkbar machte. Mist! Augenblicklich kehrte die Erinnerung an gestern zurück, der Geisterfahrerunfall, der Doppelmord. Sie setzte vorsichtig die Brille auf und beschloss, auf dem Weg einzukaufen und erst im Institut zu frühstücken.
Um kurz nach zehn, bei einer Maxi-Tasse Kaffee mit Milchschaum aus der nagelneuen Cappuccinomaschine, die Frau Schauer
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