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Die Verstummten: Thriller (German Edition)

Die Verstummten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Verstummten: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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ihrem Baumhaus in einem der Apfelbäume vorbei. Unter den hohen Gräsern des Teichs war kaum noch Wasser zu sehen. Wer kümmerte sich um die Fische darin? Da entdeckte sie ihren Vater, der am Ufer saß und mit seinem überlangen dünnen Arm im Teich herumwühlte. Jetzt zog er den Stöpsel heraus. Das Graswasser drehte sich, wirbelte herum und verschwand samt Fischen und Steinen im Ausguss. Zuletzt sprang ihr Vater hinein und riss ihre Mutter mit, die herbeigelaufen war. Zusammen kreiselten sie in das Loch, als wäre es eine Freifallrutsche.
    »Nehmt mich auch mit«, wollte sie rufen. Aber kein Laut kam aus ihrem Mund.
    An gedeckten Tischen, zwischen den Obstbäumen, saßen Leute. All ihre Freunde, die ganze Klasse starrte auf das große Trampolin, das in der Mitte aufgebaut war.
    »Anfangen«, riefen sie und klatschten im Takt.
    »Los, probier einen Salto«, forderte Sara sie auf.
    Der Himmel verdunkelte sich, und eine große Mondlaterne, die in einem Baum hing, beleuchtete das Trampolin wie eine Bühne. Sie wollte springen, aber sie konnte nicht, ihre Beine waren zusammengewachsen wie der Fischschwanz der kleinen Seejungfrau. Die Laterne fiel herab und kokelte Saras Haare an. Ihre Freundin brannte. Sie schrie.
    Keuchend erwachte sie, Saras Schrei noch in den Ohren – oder hatte sie selbst so laut geschrien? Sie blinzelte durch die Wimpern, glitt aus dem Garten in das Papierzimmer und schob die Hand unter die Decke, meinte Fischschuppen an sich zu spüren, aber sie war nur nassgeschwitzt. Ihre Beine waren noch zweigeteilt. Sie atmete auf. Oberhalb der Fersen konnte sie jetzt ein Plastikband ertasten. Es verschwand durch ihre Knöchel in der Haut.
    Jemand hatte ihre Füße durchbohrt.

17.
    Wenn ihr doch nur eine Ausrede einfiel, dachte Carina, als sie vor dem Häuserblock am Harras stand, der über zwanzig Jahre lang ihr Zuhause gewesen war. Würde sie sich in einigen Jahren an diesen Moment zurückerinnern, wie sie hier in die Straße eingebogen war, an diesen Moment, als sie noch nichts über ihre richtige Mutter gewusst hatte? An diese Mischung aus Spannung, Wut und Neugierde, an das Durcheinander in ihrem Inneren zwischen Ablehnung und Wissenwollen und an den letzten Augenblick davor? Was für eine Art Wahrheit würde sie erfahren? Für das ganze Vertuschen musste es einen Grund geben. Warum hatte ihre Mutter sie auch später nie besucht, als sie längst erwachsen gewesen war? Hatte sie sich einfach nicht für sie interessiert? Wie schaffte es eine Frau, ihr Kind, das in ihr gewachsen war, wenige Wochen nach der Geburt einfach woanders abzustellen wie einen ausrangierten Gegenstand?
    Doch am meisten wurmte sie, dass sie belogen worden war. Was, wenn sie nicht aus Mexiko zurückgekehrt wäre – hätte sie es dann jemals erfahren?
    Jemand schleppte sein Mountainbike aus dem Keller hoch und ließ Carina in den Hausflur. Das erinnerte sie daran, dass sie Silvia fragen wollte, ob sie sich ihr Fahrrad ausleihen durfte. Rad fahren, das war Freiheit pur. Und nach dem gestrigen Erlebnis drängte es sie noch mehr danach. In Mexiko-Stadt war sie mit einem roten Ecobici -Rad, das sie sich für umgerechnet fünfzehn Euro im Jahr ausgeliehen hatte, auf den grünen Radwegmarkierungen zur Arbeit geradelt. Morgens und abends ging es durch die Abgaswolken der Staus. Zum Ausgleich sperrten die Mexikaner sonntags die avenida reforma, die Prachtstraße, für Autos und gaben sie für Radfahrer und Spaziergänger frei.
    Sie mied immer noch den Aufzug und stieg die Treppe nach oben. Würde sie eines Tages ihre richtige Mutter kennenlernen wollen? Was würde sie sagen, was empfinden, wenn sie sie zum ersten Mal sah? Eigentlich wollte sie noch gar nicht so weit denken. Viel näher lag die Frage, warum ihr Vater so betonte, dass sie sich nicht in den neuen Fall einmischen sollte. Erst bedrängte er sie, und nun wollte er sie ausschließen. Dieses Hin und Her nervte. Da waren ihr die Toten lieber, die verwirrten einen nicht mehr. Auf dem letzten Absatz, kurz vor der Wohnungstür, zog schon ein Duft durchs Treppenhaus, auf den ihr Magen mit einem Knurren reagierte. Sie klingelte.
    Ihr Vater hatte sich ins Zeug gelegt. Spinatlasagne mit Rapunzelsalat und Kräuterbaguettes. Dafür hatte er bestimmt Stunden in der Küche gestanden. Seit Silvias Krankheit kochte er zwar öfter als früher, doch etwas so Aufwendiges machte er sonst nur für die ganze Familie, an Silvester oder Weihnachten, wenn Münchens Kriminelle es erlaubten. Heute hatte er

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