Die Verstummten: Thriller (German Edition)
die Zeigefinger an den Kopf. Wenn sie als Kind trotzte, hatte er sie damit aufgezogen, dass ihr eines Tages Hörner wachsen würden, weil sie im Sternzeichen Stier war. Meist war sie heulend hinausgerannt und hatte ihren Kopf abgetastet, ob wirklich etwas herausspitzte.
»Also gut.« Er seufzte und rieb sich den Bauch. »Ich erzähle dir, was wir über den Jungen rausgefunden haben. Einverstanden?«
Na also, dachte Carina, mit Sturheit kam man doch ans Ziel. Vielleicht waren ihr mit den Jahren ja tatsächlich Hörner gewachsen. Unsichtbare Schweighörner. Die harte Schule mit Papa Dickschädel hatte also was gebracht.
»Die Verkehrsüberwachung hat keine Aufnahmen oder Hinweise, dass Enrico bei irgendeiner Auffahrt entlang der Strecke nach Garmisch falsch aufgefahren ist. Zuletzt wurde der Mini Cooper in München-Kreuzhof gesehen, als er genau wie wir aus der Innenstadt kam. Das bedeutet, er muss auf der Strecke gewendet haben, um verkehrt zurückzufahren.«
»Er soll mitten auf der Fahrbahn gewendet haben?«
»Kurz vor der Ausfahrt nach Starnberg gibt es einen Rastplatz, da muss er durchgefahren und – anstatt nach rechts auf die richtige Spur – nach links zurückgeprescht sein. Das würde auch das plötzliche Auftauchen erklären. Erinnerst du dich, wie spät wir ihn gesehen haben?«
Carina nickte; Kamikaze, hatte sie gedacht. Ob Enrico auch in Selbstmordabsicht unterwegs war? Die angstgeweiteten Augen gingen ihr nicht aus dem Kopf.
»Seit ein paar Wochen war der Junge nicht mehr regelmäßig zu Hause«, sagte Matte. »Er hat die Schule geschwänzt und trieb sich in der Stadt und bei Freunden herum. Dabei hat er die zehnte Klasse sowieso schon wiederholt.«
»Die Lehrer, die Freunde, die hast du alle schon befragt, außerdem mit der Verkehrswacht gesprochen und dann noch die Nudelplatten selbst gemacht?« Carina lachte.
»Sag mal, glaubst du, ich tu meine Arbeit nicht mehr richtig?« Prompt fiel ihm etwas ein. »Mensch, den Salat habe ich ganz vergessen.« Er holte die Schüssel vom Kühlschrank und häufte sich Rucola auf den Teller.
»Ich wundere mich nur. Enricos Eltern sind gestern früh ermordet worden, und am nächsten Tag ist der Fall geklärt. Sonst drehst du doch auch jeden Stein um, hinterfragst alles und jeden.« Carina konnte es gar nicht glauben. »Das Projektil aus Olivias Herz, der Vergleich mit der Patronenhülse aus dem Schlafzimmer, die DNA -Auswertung, das kann doch unmöglich schon alles erledigt sein?« Sie bohrte weiter, selbst auf die Gefahr hin, dass er ihr gleich über den Mund fuhr.
Der Schlüssel an der Haustür klapperte.
»Hallo, ihr beiden.« Silvia stürmte herein, stellte ihre alte, abgewetzte Hebammentasche ab, warf einen Stapel Post auf das Telefontischchen und drückte Carina einen Kuss auf die Wange. Als sie ihre Beule bemerkte, strich sie ihr sanft darüber, klappte die Hebammentasche auf und schraubte ein Fläschchen mit homöopathischen Globuli auf. »Mund auf«, befahl sie ihr, unverändert seit Carinas Kindheit. Und ganz brave Tochter, öffnete Carina den Mund und ließ sich die Kügelchen auf die Zunge legen.
Ob das wohl wirkte, so zwischen Spinat und Nudeln?, fragte sie sich.
Silvia schnappte sich Mattes Gabel und fischte sich ein Stück Lasagne aus der Auflaufform. Über ihrer Nase klebte ein großes Pflaster mit einem bunten Schmetterling darauf. »Lecker!« Sie kaute, schluckte, schob nach. »Ich weiß schon, warum ich dich geheiratet habe.«
»So?«, knurrte Matte, holte ihr einen Teller und Besteck aus dem Küchenschrank und deckte für sie auf.
Silvia blieb beim Ofen stehen und kratzte die Auflaufform aus. »Mmmh. Du rettest mich! Ich habe vielleicht einen Kohldampf. Beckenendlage, aber alles ging glatt. Zusammengefaltet wie ein Taschentuch ist die Kleine mit dem Hintern zuerst schließlich aus ihrer Mutter geflutscht. Na, was sagt ihr?«
»Ein Lob auf deine Hebammenkunst.« Carina gratulierte ihr. Obwohl immer mehr Frauen auf Anraten ihrer Ärzte einen Kaiserschnitt per Termin vereinbarten, plädierte ihre Adoptivmutter für den natürlichen, selbst gewählten Zeitpunkt des Kindes. Der neue Erdenbürger sollte nicht schon zu Beginn des Lebens in Terminkalender gepresst werden. Sie galt als Spezialistin für schwierige Geburten, hatte dadurch aber auch hin und wieder Debatten in der Öffentlichkeit auszutragen. Mit Schlagzeilen über die Kyreleis-Familie waren Wanda und Carina aufgewachsen.
»Gibt es noch mehr von dem köstlichen Zeug hier?«
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