Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Silvia spähte über den Tisch.
»Nun setz dich doch erst mal.« Matte öffnete das Backrohr und hob einen Topf mit einer weiteren dampfenden Portion heraus.
»Wie lief es eigentlich in deinem Seminar? War das ein echter Schamane?«, fragte Carina.
»Und ob. Eduardo ist Peruaner.« Silvia trank Mattes Glas leer und ignorierte seine Aufforderung. »Aber er lebt seit zwanzig Jahren in Deutschland, gibt mit seiner Frau zusammen überall Kurse. Kristina hat mich mitgenommen, nachdem ihr mich versetzt hattet. Die hättest du kennenlernen sollen, Carina. Eine Ausstrahlung hat die – oder besser gesagt eine Aura.«
»Und was haben sie mit deiner Nase gemacht?« Das Schmetterlings-Pflaster sah nicht sehr peruanisch aus.
»Sie haben festgestellt, dass sich durch meine Krankheit ein Teil meiner Seele abgelöst hat und in ein Paralleluniversum gewandert ist, um irgendwas Unverarbeitetes in meiner Vergangenheit nicht aushalten zu müssen.« Spinatstückchen flogen, als sie mit der Gabel in der Luft herumfuchtelte.
Führten dreißig Jahre Schweigen etwa zu Nasenkrebs?, fragte sich Carina. Vielleicht kriegten sie jetzt, Schamane sei dank, endlich die Kurve und sagten ihr alles.
»Eduardo und Kristina kennen Rituale, mit denen sie versucht haben, meinen Seelenanteil aus der unsichtbaren Welt wieder zurückzuholen.«
Matte, der mit der unsichtbaren Welt nicht viel am Hut hatte, holte sich den Poststapel und sortierte die Briefe.
»Und?«, drängte Carina. Ritual hin oder her, Hauptsache, Silvia schlief nicht im Stehen ein und erzählte endlich.
»Das muss erst wirken, morgen, in den nächsten Tagen, einer Woche oder länger. Vielleicht brauche ich auch noch einen weiteren Kurs, mal sehen. Hast du in Mexiko nicht auch schamanistische Erfahrungen machen können?«
Zum ersten Mal, seit Carina wieder hier war, fragte Silvia nach ihren Erlebnissen in Mexiko. Vielleicht sollte sie ihrer Adoptivmutter das nächste Ritual spendieren. Silvias Blick fiel auf einen Brief, den Matte gerade zur Seite legen wollte. Sie schnappte ihn sich und ging ins Wohnzimmer.
»Bleib hier, wir wollten doch … «, rief er ihr hinterher.
»Ich habe vier Stunden auf einem Fliesenboden gekniet, weil die Bini im Vierfüßlerstand im Bad geboren hat.« Sie rieb sich das Kreuz und ließ sich auf die Couch fallen. »Mir tut alles weh, ich muss mich einfach einen Moment ausruhen.« Im nächsten Augenblick, kaum dass sie den Brief geöffnet und überflogen hatte, sprang sie wieder auf. »Stellt euch vor! Ein Vater will mich verklagen.« Sie wedelte mit dem Papier. »Ich hätte die Geburt seines Kindes absichtlich mit irgendwelchen Kräutern oder Drogen beschleunigt und herumgepfuscht. Der will meine Existenz zerstören.« Sie war außer sich.
Matte stellte die Auflaufform in die Spüle und drehte den Wasserhahn auf. »Jetzt übertreib nicht und zeig erst mal her.« Er wollte nach dem Brief langen.
Silvia wich ihm aus. »Glaubst du mir etwa nicht? So seid ihr Männer alle, immer wollt ihr uns kontrollieren.« Sie rieb sich den Nacken, stöhnte und stampfte herum.
»Alle?« Matte trat auf sie zu, wollte sie umfassen.
»Ja, auch du.« Sie wich seiner Umarmung aus. »Hast du vergessen, wie du dich bei der Geburt unserer Tochter aufgeführt hast?« Nach einem Seitenblick zu Carina ergänzte sie: »Also bei Wandas Geburt, meine ich. Erst bist du zu spät gekommen und dann ausgerastet, als das Ärzteteam nicht gleich zur Stelle war. Dabei wollte ich gar keinen Arzt dabeihaben.« Sie sank auf die Couch zurück, glättete den Brief auf ihrem Schoß. »Manchmal denke ich, du stiftest deine Täter an, genau dann zu morden, wenn in unserer Familie was los ist, nur damit du eine Ausrede hast, nicht da zu sein.«
»Das sagt gerade die Richtige.« Matte verschränkte die Arme. »Carina ist extra gekommen, weil sie sich mit dir aussprechen wollte und du … ?« Silvia sprang wieder auf und griff nach dem Telefon. »Das klärt ihr am besten zwischen euch beiden. Ich ruf die Bärbel an, die kennt eine Anwältin.«
»Komm doch erst mal her, es gibt noch Salat und … « Ihr Vater stützte sich auf die Stuhllehne und verzog das Gesicht.
Carina reichte es. Sollten die zwei doch aneinander vorbeireden, sich verletzen, bedauern, so viel sie wollten, sie musste sich das nicht anhören. Auch wenn sie sie als Argument benutzten. Ein Argument, ja, mehr war sie in dieser Familie nicht mehr. Sie packte ihre Tasche, entschlossen zu gehen. Unsere Tochter Wanda, aha. Es gab also
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