Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Wolf. »Wir sind spät dran. Hättest du nicht verpennt, hätten wir bereits die halbe Strecke geschafft. Du kannst im Auto weiterschlafen.«
In ihren Ohren rauschte es. Sie packte mechanisch ein paar Sachen zusammen und folgte Wolf kurz darauf, als hätte jemand bei ihr auf einen Schalter gedrückt.
Indem man die letzten angeblich aktiven Terroristen zu einem Treffpunkt lockte, um sie festzunehmen, wollte die Bundesregierung offiziell einen Schlusspunkt unter die RAF setzen. Alle Behörden hatten diesen Einsatz monatelang vorbereitet. Im Schichtdienst überwachten Iris und Wolf per Funk eine Pension in Wismar, in der ein verdrahteter V-Mann und eine scheinbar ahnungslose Terroristin abgestiegen waren. Dann, am 27. Juni1993 , startete die Aktion unter dem Decknamen: »Weinlese«. Die GSG 9 rückte an, das Mobile Einsatzkommando und viele Beamte des Bundeskriminalamtes. Bad Kleinen, ein Dreitausendsechshundert-Seelen-Ort war auf einen Schlag von der gesamten Terrorabwehr durchdrungen. Iris blendete ihre Gefühle aus und folgte den Anweisungen, weiter abzuhören, bis sie plötzlich ihre Peiniger unter den Beamten entdeckte. Salamander und Calimero. Sie stiegen aus einem Einsatzwagen und klappten die Visiere ihrer Schutzhelme herunter. Ab diesem Moment wurde das Geschehen zu einem Film, in dem sie nicht mitspielte, nur das Pulsieren in ihr wurde stärker. Dann mit einem Mal eskalierte die Verhaftung. Iris wurde Augenzeugin des Feuergefechts, von dem es später in den Medien hieß, dass ein Terrorist erst einen GSG 9-Beamten und danach sich selbst erschossen hätte. Sie jedoch hatte etwas anderes gesehen: Das Geld benutzte die Menschen als Währung. Als ihr das klar wurde, verstummte schlagartig das Rauschen in ihren Ohren, sie tauchte aus ihrer Benommenheit auf und fasste einen Entschluss.
Zuerst ließ sie sich krankschreiben. Ihr Chef war einverstanden, die Medien spielten ohnehin verrückt, und keinesfalls sollte Iris in das Blickfeld irgendeines Fotografen oder Journalisten rücken. Als Nächstes musste sie aus der Gedankenspirale heraus, womöglich wieder schwanger zu sein. Ihre Tage hatte sie noch nie regelmäßig gehabt, aber nun war sie deutlich über der Zeit. Wie sollte sie dem Kind erklären, wer als Vater infrage kam und unter welchen Umständen es gezeugt worden war? Schon einmal hatte sie ihr Kind weggegeben. In ihrem Inneren spielte sie sämtliche Szenarien durch, vermied es, einen Blick auf die Zeitungen zu werfen, wenn sie einkaufen ging. Trotzdem stachen ihr ab und zu die Schlagzeilen ins Auge. Der Bonner Innenminister war zurückgetreten, ein Generalbundesanwalt versetzt worden, und innerhalb des BKA und BND würden Stellen umgeschichtet werden, was vermutlich auch Krallinger und Felix betraf. Endlich raffte sie sich auf und ging zu einem Frauenarzt.
»Wehweh!« Ein kleiner Junge, der mit Legosteinen im Wartezimmer einen Turm vor ihren Füßen baute, zeigte auf das Blut, das sie erst wahrnahm, als es durch ihre Hose drang und sich auf dem Boden unter dem Sitzgeflecht des Stuhles ausbreitete. Als wollte ihr Körper sie vor sich selbst retten! Sie verließ die Praxis, ohne sich untersuchen zu lassen.
Zu Hause lag ein Paket ohne Absender vor ihrer Wohnungstür. Ihr gepunkteter Regenmantel, ihr Waschzeug, sogar ihr Geldbeutel waren darin. Dazu ihre Abfindung, bis auf den Pfennig genau. Wer der Vier ihr das geschickt hatte, wusste sie nicht. Und es war ihr auch egal. Sie würde nicht mehr zum Dienst zurückkehren. Sie fuhr zu Edgar, um ihm das Fahrgeld zurückzugeben, dazu etwas mehr, für ihre Rettung.
»Gloria Viktoria, oder wie auch immer du heißt, Frauen mit Geheimnis haben mir schon immer gefallen, meine Hanna war auch so eine.« Er nahm das Geld, führte Iris in sein Wohnzimmer, schob die Glasscheibe einer Schrankwand auf und legte die Scheine unter eine Urne, neben der das gerahmte Hochzeitsfoto von ihm und seiner Hanna stand. Dann holte er einen Birnenschnaps und zwei Gläser aus dem Fach darunter. »Willst du nicht bleiben? Ich kann dir nicht viel zahlen, biete aber ein Zimmer mit Einbauküche, hier unterm Dach.« Er zeigte mit dem Daumen nach oben. »Ich suche jemanden, mit dem ich das Geschäft weiterführen kann. Hanna ruht hier nun schon sieben Jahre.« Er strich über die Urne. »Und mein Sohn weigert sich, in meine Fußstapfen zu treten.«
»Was, ich soll Bestatterin lernen? Du kennst mich doch gar nicht, weißt nichts über mich.« Sie staunte über den alten Mann, der sämtliche
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