Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Bürstenfrisur, wie auch Richard eine trägt?«
Peter lachte. »Stimmt, das ist mir gar nicht aufgefallen, siehst du, ich hab mich mehr auf seine Worte konzentriert.«
»Was hast du dir eigentlich notiert?«
»Ach, nur wie er spricht, ich sammele solche Eigenheiten.«
»Und was sind das für welche?«
»Wie gesagt.«
»Was, wie gesagt?« Carina verstand nicht.
»Richard hat das verwendet, kaum dass wir im Haus waren, als hätte er uns schon einen langen Vortrag gehalten.«
»Und was bedeutet das?«
»Nichts, nur eine Eigenheit. Ich mach das bei jedem.«
»Hast du auch schon was zu mir notiert?«
»Ja, klar.« Er grinste. »Aber das ist noch geheim.«
»Olivia hat kurz vor ihrem Tod noch was in den Teppichflor geritzt, einen Vogel oder irgendwelche Zeichen. Aber das hat Verena aus Versehen zerstört, als sie mit ihrem Stativ ins Schlafzimmer gekommen ist.« Sie zeigte ihm die Zeichen in ihrem Skizzenbuch. »Was würdest du denn in deiner Todesstunde festhalten wollen?«
»Carina … «
»Nein, im Ernst.«
Er seufzte. »Na gut, ich weiß, was du meinst, ich glaube, ich würde den Namen meines Mörders schreiben oder irgendwas, was noch wichtig ist für die, die mich finden. Vielleicht würde ich auch nichts über mich schreiben, sondern über jemanden, der noch in Gefahr ist.«
»Also über Flora oder Enrico.«
»Ja.« Peter zog das Buch zu sich heran. »Das könnte ein spiegelverkehrtes E sein, hier am Anfang.«
Der gelbe Geburtstagsbrief ihrer Mutter rutschte heraus. Peter fing ihn auf. »Hey, Carina zum zwölften Geburtstag. Den trägst du immer mit dir herum?« Sie wollte den Umschlag sofort wieder in das Skizzenbuch schieben, doch dann gab sie sich einen Ruck und überlegte es sich anders. »Mein Vater hat ihn mir erst vor Kurzem gegeben. Er stammt angeblich von meiner richtigen Mutter.« Und sie erzählte von Mattes Schweigen.
Peter hörte aufmerksam zu und betrachtete die Karte mit der »Buchstabensuppe«, in der die zwölf gemalten Kerzen schwammen. »Jetzt verstehe ich das alles besser. Du und dein Vater.«
»Einen Doppelmord so schnell abhaken, das kenne ich nicht von ihm. Selbst wenn die Staatsanwaltschaft drängt – oder gerade dann – , hat er immer alles hinterfragt.« Peters Interesse schien bei ihr ein Ventil geöffnet zu haben. Auf einmal fiel ihr alles Mögliche ein, was offenbar schon lange in ihr gebrodelt hatte. »Als wir noch klein waren, meine Schwester und ich, ist er zu Hause nach Feierabend immer alles noch mal durchgegangen. Er war quasi nie da, auch wenn er da war. Einmal hat er mit uns sogar im Keller einen Tatort nachgestellt. Wanda war das Mordopfer und musste sich ganz komisch hinlegen.« Carina zeichnete es mit den Fingerspitzen auf die Tischdecke. »Und ich sollte einen Verdächtigen spielen. Silvia, meine Adoptivmutter, ist ausgerastet, als sie heimkam und das mitkriegte.« Sie verstummte und musterte Peter von der Seite. »Zweifelst du nie an deinen Eltern?«
»Ich glaube, sie zweifeln eher an mir. Mein Vater ist Kaminkehrer, und ich hab Höhenangst. Ich bin wohl nicht der Traumsohn, den er sich erhofft hat.«
Blutphobie und Höhen angst, dachte Carina. Optimale V oraussetzungen für die Mordkommission. »Dann hoffe ich, dass du nie zu einem Einsatz in luftiger Höhe gerufen wirst.«
Er seufzte. »Allerdings. Manchmal träume ich, dass jemand an der Kante eines Hochhauses steht und von mir gerettet werden will. Ich glaube, das wäre dann mein letzter Tag bei der Polizei.«
»Na ja, in Kaminkehrerkluft hätte ich dich schon mal gerne gesehen.« Sie lächelte ihn an.
Sonntag
Sechsundfünfzig Stunden nach dem Ursprung
So lief ich durch das Finster
in meinem Schädelhaus:
da weint er und da grinst er
und kann nicht mehr heraus.
Thomas Brasch
43.
Um Viertel vor drei klingelte Carina in der Au an der Haustür von Wandas Wohnblock. Ihre Haare waren noch feucht vom Waschen, das erfrischte bei der Hitze, und ihr Zeh war endlich verpflastert. Trotzdem trug sie wieder Olivias Schuhe, die passten besser als ihre Turnschuhe zu dem mexikanischen Kleid mit der kunstvollen Stickerei. Es war aus kühlem Leinen und ärmellos. Der Summer ertönte, Carina stieg die Treppen nach oben. Sie wollte Wanda fragen, seit wann sie wusste, dass sie Halbschwestern waren. Vielleicht wusste sie es überhaupt nicht, oder es war ihr egal. Sie lebte im Hier und Jetzt und ein bisschen im Morgen, was die Männer betraf und die Tagträume und die Hoffnungen darin.
Ihre Schwester
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