Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Tätowierungen unter seinen eng geknöpften Manschetten verbarg. Nur den breiten Ring mit den silbernen Totenköpfen trug er sichtbar am kleinen Finger.
»Bestatter wirst du einfach, Ausbildung gibt’s da keine, jedenfalls keine offizielle. Trotzdem ist die Totenwäscherei ein jahrhundertealtes Handwerk, und das könnte ich dir beibringen.« Er schenkte ein und stieß mit ihr an. Der Schnaps brannte ihre Kehle hinunter, hatte einen süß-herben Nachgeschmack. Ein junger Mann rumpelte herein.
»Michael, darf ich dir jemanden vorstellen?« Edgar strahlte ihn an.
Der Typ, in Schlabbershirt und zu weiten Jeans, achtete nicht auf sie, griff stattdessen zielsicher unter Hannas Urne und zog sich ein paar Scheine. »Leihst du mir die, Papa, für neue Bücher und so? Ich bleib ein paar Tage bei der Fanni.« Er wartete keine Reaktion ab, sondern witschte gleich wieder zur Tür hinaus.
»Wo?«, fragte Edgar. Doch Michael war schon draußen. Edgar wandte sich an Iris und schenkte ihnen noch mal nach. »Er studiert Germanistik, halt nein, Orientalistik, seit diesem Semester. Und abends trainiert er bei der Wasserrettung. Hauptsache nichts, was nur annähernd mit Bestattungswesen zu tun hat. Dabei holt es ihn überall ein.« Er legte den Kopf schräg. »Die orientalischen Bestattungsriten sind übrigens auch interessant. Im Iran bauen sie Türme, auf denen sie ihre Toten den Greifvögeln zum Fraß aussetzen. Türme des Schweigens heißen die.« Er kippte das zweite Glas. »Und, hast du es dir überlegt?«
42.
»Ein paar Ecken weiter hat ein vegetarisches Restaurant aufgemacht. Wie wäre es?« Peter sah auf seine Armbanduhr. »Eine halbe Stunde müsste drin sein.« Er grinste. »Dass du kein Fleisch magst, weiß ich von … «
»Schon klar, ich kann mir denken, von wem«, unterbrach Carina. »Ja, gern.« Ihr knurrte der Magen. Die Vorstellung, von einer umfangreichen Speisekarte wählen zu können und sich nicht nur, wie in anderen Restaurants üblich, auf Salat oder eine Suppe zu beschränken, bei der sie fragen musste, ob die aus Fleischbrühe gemacht worden war, verstärkte ihren Hunger. Sie ließen Peters Dienstwagen im Hof der Zeitungsredaktion stehen und liefen los. Allerdings war die Genießerbar oder Genießbar , von der Peter im Stadtmagazin gelesen hatte, einfach nicht zu finden. Stattdessen stießen sie auf ein Tierfuttergeschäft und, eine Straße weiter, die genauso aussah und laut Peter auch infrage kam, auf einen Drogeriemarkt. Wieder spähte er auf die Uhr. Zehn vor halb eins. »Sollen wir das nächstbeste Lokal nehmen oder lieber zurückgehen und in die Innenstadt fahren?«
Carinas Füße brannten, besonders der eine Schuh drückte, dabei trug sie doch Olivias ungefragte Leihgabe bereits seit zwei Tagen. Eigentlich schaffte sie keinen Schritt mehr. Sie schlüpfte aus den Schuhen. Auf dem rechten kleinen Zeh hatte sich eine Blase gebildet. Wenn die aufplatzte, würde sie die Schuhe nicht mehr zurückgeben können. Peter hatte immer noch Frau Mayerhofers Haferlschuhe an und trug sogar Wollsocken. Sie rief einer Frau zu, die den gegenüberliegenden Gehsteig entlangjoggte. »Wir suchen dieses neue vegetarische Lokal, wissen Sie, wo das sein könnte?«
Die Läuferin blieb stehen, keuchte. »Neu? Also ich kenne nur die Genussbar , die ist dort drüben, im Innenhof.« Sie zeigte auf das Haus bei der Ampel, an dem sie bereits zweimal vorbeigelaufen waren.
Carina humpelte barfuß weiter.
»Pass auf, dass da kein Dreck reinkommt. Oder soll ich dich tragen?« Grinsend beugte sich Peter vor, wie um sie hochzuheben.
Sie wehrte ihn ab. »Ich brauch bloß Pflaster, mehr nicht.«
Das Lokal war leer, obwohl es seit elf Uhr dreißig geöffnet haben musste. Ein Kellner in karierter Weste und Fliege, mit einem gefalteten Tuch über dem Arm, der aussah, als trüge er seine Berufskleidung zum ersten Mal, sperrte ihnen auf und zeigte großzügig herum. Sie konnten sich einen Platz aussuchen.
»Ich habe dich für ziemlich arrogant gehalten. Für eine Vorzeigetochter, so wie Matte mit dir geprahlt hat«, sagte Peter, nachdem sie sich für einen Ecktisch nahe am Fenster entschieden hatten, durch das wenigstens etwas Licht hereinfiel.
»Mir ging’s mit dir genauso.«
Plötzlich verlegen, vertieften sich beide in ihre Speisekarten.
»Wollen wir uns einen Vorspeisenteller teilen?«, fragte Peter nach einer Weile.
»Wir teilen alles.« Was tat sie nur die ganze Zeit, flirtete sie wirklich mit dem Kollegen ihres Vaters? Sie
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