Die Verstummten: Thriller (German Edition)
befand sich noch im Geheimfach ihres Schreibtisches. Sie musste es probieren. Sie tauchte den Pinsel in das restliche Erdbeerwasser aus der Trinkflasche und rührte die Farben in der Blechschachtel mit den wenigen Aquarellnäpfen an, die Dirk und seine Freunde nicht zertreten hatten. Braun, Schwarz, Beige, Gelb und Rot.
So schnell es ging, malte sie, und ohne abzusetzen. Sie rechnete jeden Moment damit, dass die Kinderfänger kamen, bevor sie ihr Werk vollendet hatte. Schwer genug, den Holzton von der Innenseite des Schranks zu treffen, immer wieder überprüfte sie es im Spiegel. Auch das T-Shirt, Saras Schmetterling, opferte sie, pinselte darüber und verbarg ihn unter Braun in allen Schattierungen. Ihre Freundin würde das bestimmt verstehen, vielleicht würde es auch wieder rausgehen, wenn man es wusch. Wichtiger war doch, dass sie entkommen konnte, bevor sie Sara holten, falls sie doch noch merkten, dass sie vertauscht worden waren. Sie bestrich sich Arme und Beine, rieb sich zuletzt die Farben ins Gesicht. Dann war das Erdbeerwasser alle, sie malte mit Spucke zu Ende. Wie eine zweite Haut fühlten sich all die Farbschichten an.
Als sie erneut in den Spiegel sah, fand sie sich nicht mehr. Wenn sie jetzt die Augen schloss, war sie unsichtbar.
51.
Nachdem die kleine Lea in den CT -Raum gebracht worden war und Dr. Boes einen Augenarzt verständigt hatte, der ihren Augenhintergrund messen würde, verabschiedete sich Carina. Falls es zu einer Anklage wegen Kindesmisshandlung kam, würden sie sich bei einem Gerichtstermin wiedersehen.
Maya Korte begleitete sie hinaus. »Können Sie mir bitte noch etwas mehr über das Schütteltrauma erzählen?« Sie blieb stehen und wirkte auf einmal verlegen. »Ich sollte mich eigentlich von Amts wegen damit auskennen, aber ich bin noch nicht so lange dabei und hatte bisher hauptsächlich mit älteren Kindern zu tun.« Sie holte Luft und ging weiter. »Wenn ich das richtig verstehe, kann so ein Schütteltrauma auch eine Erklärung für spätere Entwicklungsstörungen sein?«
»Möglich.« Carina hatte keine Lust auf eine Fachdiskussion. Die kleine Lea war fast zu Tode misshandelt worden, es war ungewiss, ob sie überlebte. Insgesamt erschöpft, verursachte ihr Maya Kortes bombastische Glasperlenkette eine Gänsehaut, wenn sie bloß hinsah. Wie konnte man nur so was tragen? Sie dachte an Clemens’ Elsterfederanhänger. Der lag in ihrer Tasche, und da würde er auch bleiben. »Viele Kinder sterben daran, und wenn sie überleben, leiden sie an Behinderungen.« Sie kamen an der Cafeteria vorbei. »Und ja, manchmal kommt es auch vor, dass manche Kinder ohne erkennbare Folgen geschüttelt werden und es sich erst später auswirkt.« Carina blieb stehen. »Entschuldigen Sie, ich glaube, ich muss hier was essen. Ich hatte heute noch kein Frühstück.«
»Darf ich mich auf einen Kaffee dazusetzen? Ich bin übrigens die Maya. Wollen wir uns duzen?« Sie strahlte Carina aus ihren Vielaugen an, sodass sie unmöglich ablehnen konnte.
Als sie sich an einem freien Tisch neben dem Zeitungsständer niedergelassen hatten, zog Maya endlich ihr gewebtes Oberteil aus und zu Carinas Erleichterung auch die Kette, hängte beides über die Lehne des dritten Stuhls. »Der Verschluss kratzt und verfängt sich immer in meinen Haaren.«
Ohne Schmuck war diese Maya viel hübscher, fand sie. »Schreibt man deinen Namen mit Ypsilon?«
Maya nickte. »Ich interessiere mich für indigene Kunst, war aber selbst noch nie in Mittelamerika. Da will ich unbedingt mal hin. Mexiko, meine Namensheimat sozusagen, soll ja traumhaft sein.«
Der Kaffee und die Käsesemmel waren besser als erwartet. Carina erzählte beim Essen von ihrer Fortbildung über das Shaken-Baby-Syndrom in den USA im letzten Jahr, aber nicht, dass sie von Mexiko aus dort hingereist war. Jedes Mal, wenn sie auch nur erwähnte, dass sie dort gelebt hatte, begannen merkwürdigerweise alle von ihren Reisesehnsüchten zu sprechen.
Maya hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen. »In der Familienberatung habe ich es normalerweise mit Kindern zu tun, die irgendwie auffällig werden, sich schlecht konzentrieren können oder kaum ansprechbar sind.«
Carina verzog den Mund. »Die Fälle, die wir Rechtsmediziner zu sehen kriegen, sind vermutlich Kinder, die nicht zum ersten Mal geschüttelt wurden. Diese komatösen Zustände sind die schlimmste Form, aber es kann durchaus sein, dass mehrmaliges leichteres Schütteln Verknüpfungen im Gehirn zerstört,
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