Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Ton«, sagte die junge Mutter. »Das ist ja das Komische.«
»Na, Lea.« Carina drehte Leas Gesichtchen so, dass die Kleine sie wahrnehmen musste. Sie war sehr blass und ihre Haut marmoriert wie eine ausgebleichte Landkarte. »Ich bin Carina und versuche dir zu helfen, damit es dir hoffentlich bald besser geht. Ich schau mal nach, ja? Ich bin auch ganz vorsichtig.« Sie streichelte dem Kind sanft die Wange, schlug die Decke zurück und schob ihm das Hemdchen hoch. An den Ärmchen und am Brustkorb, wo sich der Rippenbruch befand, hatten sich Blutergüsse gebildet. Eindeutig Griffmarken von mehreren Fingern. Sie warf einen Blick auf Saskia Remhilds schrundige Hände. Es konnten ihre Fingerabdrücke sein. »Trinkt Lea genug?«, fragte sie.
»Kaum, sie erbricht sich sofort«, sagte Dr. Boes. »Deshalb haben wir sie an den Tropf gehängt.«
»Haben Sie schon eine CT gemacht? Und gibt es einen Augenarzt hier?«
»Eine Kopfverletzung können wir ausschließen. Keine Schädelfraktur und … « Dr. Boes las in seinen Unterlagen nach. »Die Blutwerte sind auch in Ordnung.«
»Bitte verständigen Sie Dr. Schneidt. Er soll sich Lea ansehen, so schnell es geht.« Carina wandte sich an Saskia Remhild, die sich die Arme kratzte. »Haben Sie Lea geschüttelt, damit sie endlich ruhig ist?«
»Wie, was?« Saskia Remhild runzelte die Stirn. »Ich hopse mit ihr rum. Hoppe hoppe Reiter und so. Darf man das etwa nicht?«
Carina versuchte zu lächeln, obwohl ihr überhaupt nicht danach zumute war. »Natürlich darf man das. Aber ein Kleinkind ist kein Specht, dessen Schädel starke Vibrationen aushält.«
»Vibrationen, Vibrationen. Was redet die denn da?« Saskia Remhild wandte sich an die Frau vom Jugendamt.
»Ich meine, haben Sie oder Leas Vater … «, setzte Carina noch einmal an.
»Der ist bei einer anderen. Wir sind getrennt seit zwei Wochen.« Saskia Remhild drückte sich den Stoffhasen vors Gesicht.
»Ich verstehe, das muss schlimm für Sie gewesen sein. Dazu das schreiende Kind. Dann haben Sie Lea versucht zu beruhigen und haben sie hochgehoben und geschüttelt?«
Saskia Remhild sprang auf. »Nichts verstehst du, gar nichts. Das muss ich mir nicht anhören, das hab ich echt nicht … «
Maya Korte legte ihr Notizbuch weg und hielt die junge Mutter zurück, als sie zur Tür laufen wollte.
Der Stoffhase war heruntergefallen, Carina hob ihn auf und schüttelte ihn so fest, dass die langen Löffel vor- und zurückgeschleudert wurden. »Ich glaube, dass Lea an einem Shaken-Baby-Syndrom leidet.«
»An einem was? Shaking, shaking«, äffte Saskia Remhild Carina nach. »Lea ist doch kein Cocktail. Red gefälligst Klartext mit mir!«
»Die Nackenmuskulatur Ihrer Tochter ist noch nicht kräftig genug, um den relativ großen Kopf gegenüber Schleuderkräften halten zu können. Also, wenn Sie sie schütteln, aus Verzweiflung oder aus Übermü…«
»Schlaf du mal keine Nacht mehr durch.« Saskia Remhild sank wieder auf den Stuhl zurück. Keinen Moment hatte sie ihrer Tochter bisher Beachtung geschenkt. Carina umfasste das infusionsfreie Händchen von Lea.
»Die Schwangerschaft war auch nicht ohne. Und dann immer nur zu Hause hocken, wo sie schreit und schreit … « Saskia Remhild presste sich die Fäuste an die Ohren.
Dann also Klartext, beschloss Carina. »Wenn Sie Ihre Tochter mit ganzer Kraft schütteln … «, sie zeigte es noch einmal am Stoffhasen, »schert das Gehirn aus und schlägt am Schädelknochen an. Die Gefäße zerreißen. Es kommt zu inneren Blutungen, auch am Augenhintergrund. Ihr Kind ist vermutlich erblindet.«
50.
Sie wollte weg hier, nur wie? Nicht mal ein Fenster gab es. Floras gestreifte Vorhänge hatten sie einfach an die blanke Wand getackert.
Vielleicht konnte sie sich verstecken. Dann würden sie nach ihr suchen, und sie könnte ganz schnell rauslaufen und entkommen. Probieren musste sie es, bloß … wo sollte sie sich hier verbergen, ohne dass sie sie gleich entdeckten? Flora sah sich in ihrem Gefängnis um. Es waren ihre Möbel, die sie mit ihr hierhergeschleppt hatten, vielleicht sogar mit einem Umzugswagen, möglichst weit weg von zu Hause. Bis ihr die Augen flirrten und die Stille in ihren Ohren tanzte, starrte sie immer wieder ihr Spiegelbild an. Wenn sie sich doch nur tarnen könnte, wie dieses Tier, das alle Farben in sich trug. Dann würden sie sie gar nicht mehr finden, und sie könnte fliehen. Die Schere, den Cutter und die Pinzette hatten sie ihr genommen, aber das Malzeug, das
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