Die Verstummten: Thriller (German Edition)
der wie selbst gewebt aussah. Über dem teppichartigen Ding hing eine übermächtig große Glasperlenkette wie ein paar zusätzliche Augen. Wie sie es bei der Hitze nur darin aushielt? Carina trug wieder Jeans und ein Shirt. Das Kleid lag gefaltet in ihrer Reisetasche. Den Gürtel hatte sie heute Morgen erneut ein Loch enger stellen müssen, irgendwie war am Wochenende trotz Nudeln, Müsli und Eis nichts hängen geblieben. Nicht mal von Feiningers Frühstücksbüfett hatte sie was abbekommen.
»Sind Sie die Vertretung für Dr. Herzog?«
Carina bejahte. In ihrem Büro hatte die Professorin sie nur gebeten, Dr. Herzogs Dienst mit zu übernehmen, solange er seine Frau bei der Geburt begleitete. Eine willkommene Abwechslung, wieder einmal mit Lebenden zu arbeiten, auch wenn sie sich wie immer bei einem Gutachten fragte, was sie wohl erwartete.
»Maya Korte vom Jugendamt«, stellte sich die Vieläugige vor und tupfte sich die Stirn mit einigen Fransen ihres Umhangs ab. Sie liefen die Treppe hinauf und den Flur entlang. »Wir haben die junge Mutter schon in der Schwangerschaft begleitet und sehen regelmäßig bei ihr zu Hause nach dem Rechten, aber nun geht es ihrer Tochter auf einmal sehr schlecht.«
Auf der Baby-Station drückte ihr Dr. Boes, ein HNO -Arzt, wie sein Namensschildchen am Kittel verriet, die Hand und führte sie zu dem Zimmer. »Ich bin die Vertretung für Dr. Schneidt, den Pädiater. Er operiert gerade. Urlaubszeit, Personalmangel, wie überall. Die Kleine sei am Morgen kaum wachzukriegen gewesen, behauptet die Mutter. Am Abend und in der Nacht sei alles normal gewesen.«
Von drei Bettchen war nur eines, von Gerätschaften umringt, belegt. Die Spülung rauschte, und eine knapp Zwanzigjährige, wie Carina schätzte, schlurfte aus dem Bad und verrieb sich einen Rest Creme auf den Händen, wo sich ein Ausschlag ausgebreitet hatte.
»Saskia Remhild, die Mutter der kleinen Lea«, stellte Maya Korte die junge Frau vor. Die wich Carinas Hand aus und griff stattdessen nach einem Stoffhasen, der auf einem Stuhl lag.
»Frau Dr. Kyreleis kann uns hoffentlich sagen, was deiner Tochter genau fehlt.« Maya Korte knipste auf ihren Kugelschreiber, zog ein kleines Notizbuch unter ihrem Umhang hervor und lehnte sich ans Fenster.
Saskia Remhild starrte auf ihre übergroßen Turnschuhe ohne Schnürsenkel. Sie trug ein zerknittertes, ärmelloses Minikleid und zupfte an den wunden Stellen auf ihren Händen herum. Vermutlich war sie in der Eile in irgendetwas geschlüpft, das gerade greifbar war, oder hatte gleich das Nachthemd anbehalten. Sie kauerte sich samt dem Hasen auf den Stuhl und schlang die Beine mehrfach umeinander, als sollte nicht ihr Kind, sondern sie selbst untersucht werden.
»Lea ist vier Monate alt«, begann Dr. Boes anstelle der Mutter zu reden. Carina beugte sich über das Bettchen. Lea wurde beatmet und durch eine Infusion im Handrücken mit Elektrolyten versorgt. Der kleine Körper unter der Decke zuckte, als stünde er unter Strom.
»Sie ist vom Wickeltisch gefallen.« Saskia Remhild sprach gegen das Geräusch des Respirators an.
»Davon haben Sie noch gar nichts erwähnt.« Dr. Boes staunte.
»Gefallen stimmt auch nicht ganz, sie hat mit den Fersen immer wieder gegen die Kante geschlagen und ist weiter und weiter vorgerutscht. Ich habe sie gerade noch aufgefangen.«
»Wie konnte sie sich aber dann eine Rippe brechen?« Er wandte sich an Carina. »Die Atmung hat ausgesetzt, ich habe Lea zur Überwachung ans EEG angeschlossen.« Dr. Boes zog seine Brille aus der Kitteltasche und blätterte in den Unterlagen auf seinem Klemmbrett. »Außer der gebrochenen Rippe gibt es keine sichtbaren Verletzungen, auch auf den Röntgenbildern nicht. Keine Erklärung, was diese Krampfanfälle ausgelöst haben könnte. Sie hat kein Fieber, aber ich spreche gleich mit Dr. Schneidt, wegen einer Liquorentnahme, damit wir eine Meningitis ausschließen können.«
Die Augen weit geöffnet, schien das Kind trotz der Zuckungen in sich versunken. Carina fuhr mit der Hand langsam durch ihre Blickrichtung. Lea blinzelte nicht, starrteweiter nach oben, auf ein großes Mobile mit Meerestieren.
»Das hat uns Maya gebastelt.« Saskia Remhild hatte Carinas Blick bemerkt und deutete auf einen gefilzten Blauwal an einem der Schnüre. »Damit ließ sich Lea manchmal beruhigen. Seit ihrer Geburt schreit sie jede Nacht durch.«
»Aber seit der Sache mit dem Wickeltisch schreit sie nicht mehr, oder?«, fragte Carina.
»Keinen
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