Die Verstummten: Thriller (German Edition)
Schlüssel klappern, kurz darauf ging die Tür auf. Schnell deckte sie das Gesicht mit einem Tuch ab. Zuerst glaubte sie, Edgar käme von seiner Motorradtour zurück, aber es war Michael.
»Ich war schon auf der Autobahn, da hab ich gemerkt, dass ich das Schwimmzeug vergessen habe.« Er wedelte mit einem Beutel, zog sie zu sich heran und küsste sie, über die Tote hinweg. Seine Lippen schienen sich an ihr festzusaugen. Sie erwiderte seinen Kuss inniger als zuvor, Hauptsache, er warf keinen Blick auf die Tote. Und auf das Foto! Hastig schob sie es unter den Leichnam. Die Tote bewegte sich ein bisschen, fast so, als würde noch ein Muskel zucken.
»Wozu ist der denn?« Michael war an den Spiegel gestoßen.
»Ach, damit … kriege ich die natürliche Gesichtsfarbe am besten hin«, stammelte sie.
»Aha.« Er lachte. »Aber dein Rot steht nur dir.« Er strich ihr über die glühenden Wangen. »Also, dann bis morgen.«
Gloria lugte aus dem dunklen Gangfenster, bis die Rücklichter des Fiats nicht mehr zu sehen waren. Michael hatte wenigstens damit aufgehört, mit dem Dienstwagen zu fahren und seine Kumpel nach dem Rettungskurs aus reiner Angeberei noch auf eine liegende Spritztour im Sargraum einzuladen. Den Leichenwagen brauchte sie heute. Ihre Hand zitterte immer noch. Sie atmete tief ein und aus und wandte sich wieder ihrem Vorhaben zu. Auch wenn sie es in Gedanken zigmal durchgegangen war, die einzelnen Schritte in- und auswendig kannte, durfte sie keine Fehler machen. Nun strichelte sie der Toten mit einem Fettstift schmale Bögen über die halb geschlossenen Augen, genauso wie sie ihre Augenbrauen selbst seit vielen Jahren zurechtzupfte, und formte den Mund zu zwei geschwungenen Häkchen. Jetzt noch die Perücke, die sie schon lange besorgt hatte und die in der Auswahl an Haarteilen in ihrem Bestand für kahle Verstorbene nicht aufgefallen war. Sie schnitt sie zurecht, passte sie ihrer eigenen Frisur an. Dann knipste sie mit der Polaroid ein Sofortbild des Gesichts. Als sie mit dem Abzug wedelte, damit das Bild sichtbar wurde, blitzte ein Gedanke auf. Vor zwölf Jahren hatte jemand ein Foto von ihr gemacht, auch mit einer Polaroid. Sofort verdrängte sie die Erinnerung daran. Noch hatte die keinen Platz in ihr, obwohl sie alles nur wegen dieser Erinnerungen tat. Aber jetzt würde es sie nur aus dem Konzept bringen, wenn sie daran dachte. Sie hielt das Foto der Präparierten neben ihr eigenes Porträt. Ja, sofern man den Abstand der Augen nicht genau vermaß, und wer tat das schon aus zehn Meter Entfernung oder mehr, sah es ihr ähnlich. Eine gleichaltrige Schwester, wenn auch noch kein eineiiger Zwilling – das musste der gepunktete Regenmantel vollbringen, den sie damals oft getragen hatte und der eigentlich viel zu auffällig war für jemand in ihrem Job. Aber sie hatte die langweilige Dienstkleidung einfach sattgehabt und sich sogar einen zweiten gekauft, als der erste zu eng geworden war. So ein Massenprodukt aus einem Supermarkt war nicht zu ihr zurückzuverfolgen. Von Behördengrau war sie zu Bestatterschwarz gewechselt, aber wenn es in ihrer Freizeit regnete, dann wenigstens auf bunte Punkte, hatte sie beschlossen, und nun würde ihr diese Extravaganz nützlich sein.
49.
Das letzte Mal war Carina im praktischen Jahr hier gewesen. Damals hatte sie tatsächlich zwischen den Wünschen geschwankt, Kinderärztin oder Rechtsmedizinerin zu werden. Angesichts der Misshandlungen, die Kindern zugefügt wurden, wollte sie auch den Lebenden helfen. Nicht erst, wenn es zu spät war, das totgeprügelte Kind auf dem Seziertisch lag und es nur noch galt, die Todesursache festzustellen.
Mit Anfang dreißig hätte sie längst selbst Kinder haben können, doch irgendwie hatte es nie gepasst. Selbst wenn sie den richtigen Partner dazu fand, fühlte sie sich noch nicht dazu bereit. Sie mochte Kinder, sie liebte ihren Neffen Sandro, aber es war auch schön, nicht rund um die Uhr für jemanden verantwortlich zu sein. Es genügte, dass sie gerade selbst auf der Suche war, oder wie auch immer sie diese Sache mit ihrer Mutter bezeichnen sollte. Hatte die vielleicht auch so gedacht und sie genau deshalb weggegeben, weil sie frei und unabhängig sein wollte, ohne lebendes Windelpaket am Bein? Warum rückten Silvia und Matte dann nicht einfach damit heraus, damit sie es endlich verstehen konnte?
Als Carina das Rad vor der Kinderklinik absperrte, erwartete sie bereits an der Glastür eine kleine, mollige Frau in einem Umhang,
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