Die Verstummten: Thriller (German Edition)
trauert um dich? Wer vermisst dich? Ist dein Körper beerdigt worden, oder wurde der nie gefunden?«
Klack, klack, klack. Carina hörte ihn schon von Weitem. Am liebsten hätte sie schnell ihre Tür zugesperrt, aber zugleich lähmte sie etwas und hielt sie davon ab, überhaupt zu reagieren. Eigentlich wollte sie sich voll und ganz auf ihre Arbeit konzentrieren, ihr Vater fehlte da gerade noch. Außerdem musste er doch eigentlich beim Landgericht sein wegen seiner Zeugenaussage im Krallingerprozess. Was suchte er hier?
Mit seinem Stecken schob er die Tür auf und stand dann eine Weile im Türrahmen, als wäre der Eingang vermint. »Der Prozess ist verschoben worden, Krallinger ist krank. Was wird das, hast du einen neuen Auftrag?« Er deutete mit dem Walkingstock auf die Gesichtsrekonstruktion. »Ein archäologischer Fund?«
Sie wollte sich nicht von seiner Art zu fragen ködern lassen, andererseits war sie es leid, sich selbst ständig zu hinterfragen, nur weil er so war, wie er war. »Wieso archäologisch?«
»Wenn ein Schädel in einem Wald hier in der Gegend gefunden worden wäre, wüsste ich davon.« Er stützte sich wieder auf den Stock. »Obwohl, alles sagen sie mir auch nicht mehr.«
Du Armer, dachte sie. Sollte sie ihn nun bedauern?
Er humpelte näher. »Woran erkennst du eigentlich, ob männlich oder weiblich, ob alt oder jung? Für mich sieht ein Totenkopf wie der andere aus.«
Wenn es ihm passte, knallte er ihr die Tür vor der Nase zu, und dann schleimte er sich wieder ein. Aber wie du mir, so ich dir! So leicht würde sie es ihm nicht machen. Sie schwieg, walkte sich einen neuen Streifen Plastilin aus, legte ihn um den Schädel und formte die Wangen.
»Es tut mir leid. Ich verstehe, dass du nicht mehr mit mir reden willst. Das verschwundene Mädchen und alles. Aber ich hab meine Gründe, auch wenn die manchmal schwer … «
Nun platzte ihr doch der Kragen. »Ach ja? Das müssen schon tonnenschwere Gründe sein, wenn du sie zweiunddreißig Jahre lang mit dir rumschleppst.« Sie warf die Knete auf den Tisch und verschränkte die Arme. »Was willst du? Ich hab es nämlich satt. Ich hab dich satt, deine überhebliche Superermittlerart! Da verurteilst du einen Siebzehnjährigen zum Doppelmörder, nur weil der im Koma liegt und sich nicht wehren kann. Gib doch endlich mal zu, dass du nicht unfehlbar bist. Wer hat denn das Mädchen übersehen?«
»Ich.«
Carina schnaubte. Er schaffte es immer wieder, sie sprachlos zu machen, aber jetzt würde er nicht davonkommen. »Fällt dir überhaupt auf, dass du wie üblich den Fall vorschiebst? Warum sagst du mir nicht einfach, wie meine Mutter heißt, damit ich mir selbst aussuchen kann, ob ich sie treffen will? Du brauchst mich nicht mehr zu beschützen, vor nichts.«
»Doch.«
»Was doch?«
»Ich muss dich beschützen.«
»So? Hast du deswegen sogar meine Adoptionsakte sperren lassen? Verdammt noch mal, ich kann alleine auf mich aufpassen.« Nun schrie sie.
»Komm noch mal nach Hause, dann reden wir.« Er legte den Stecken ins Regal, streckte die Arme aus und tappte auf sie zu, um sie zu umfangen.
»Zu Hause, ha. Meinst du das Lügennest zwischen Silvia und dir?« Das Haschpapigetue auf wackligen Beinen würde diesmal nicht bei ihr ziehen. Sie schlug seine Hände weg, brachte ihn zum Schwanken. Sollte er doch ruhig hinfallen. Etwas spritzte zur Seite. Wuttränen, die eigentlich hätten verdampfen müssen, so kochte sie. »Einbetoniert hast du dich, umrahmt von Tatortfotos im Kinderzimmer deiner Töchter. Was bist du für ein Polizist, dass du nicht mal dein eigenes Leben auf die Reihe kriegst?«
»Du hast recht.«
»Gib nicht einfach klein bei, ich will die Wahrheit. Raus damit! Ist sie eine Hure oder eine Schwerverbrecherin?« Sie atmete schwer; eigentlich hätte gleich der Rauchmelder losgehen müssen, so dicke Luft produzierte sie.
»Weder noch«, sagte er leise und senkte den Blick.
Er log, das spürte sie. Nun wusste sie auch nicht weiter, hob den Fuß mit dem geliehenen Schuh und trat gegen das nächstbeste Teil, einen alten Drucker. Erschöpft plumpste sie auf ihren Schreibtischstuhl und starrte durch die Glasscheibe des alten Seziertischs auf die Ablaufrinne. Sollte ihr Vater machen, was er wollte, gehen oder bleiben. Sie würde hier ausharren, Ewigkeiten, wenn es sein musste. Sekunden verstrichen, dann Minuten.
Endlich fing Matte zu sprechen an. »Iris ist tot. An deinem zwölften Geburtstag hat sie angerufen und mich um Hilfe gebeten,
Weitere Kostenlose Bücher