Die Versuchung
wurde. Zum Abschluss der Hochzeitsfeier wurde Punsch gereicht. Die Gäste drängten sich um das Brautpaar, um mit ihm anzustoßen und ein Stück vom Hochzeitskuchen zu ergattern, einem kolossalen Baumkuchen. Kurz darauf meldete Johann: „Der Wagen für Fräulein Sophie!“ Das war das Signal zum Aufbruch für die ganze Hochzeitsgesellschaft. Sophie verabschiedete sich zögernd von ihren Eltern, reichte Hamilton die Hand und fiel dann schluchzend ihrer Schwester um den Hals.
„Komm, Sophie“, sagte ihr Vater gespielt heiter, „du nimmst Abschied, als ob Meere und nicht nur ein paar Straßen uns trennen werden.“
Er reichte ihr seinen Arm und führte sie die Treppe hinunter. Alle folgten ihnen – bis auf Isabelle und Hamilton, die im Salon zurückblieben.
„Nun, haben wir nicht einen lustigen Abend gehabt?“, rief Madame Rosenberg triumphierend, als sie einige Minuten später fast atemlos eintrat. „Siehst du, Franz, es war doch eine schöne Hochzeit.“
„Das stimmt“, sagte er und setzte sich seufzend auf das Sofa. „Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist, aber ich fühle mich nicht wohl. Am Ende werde ich noch krank.“
„Ach was“, antwortete seine Frau heiter. „Wenn du krank wärst, hättest du nicht so viel essen können. Vielleicht hast du etwas zu viel Fisch oder Truthahn oder Schinken gegessen. Ganz sicher bist du einfach müde. Du kannst ruhig schon zu Bett gehen.“
Rosenberg gehorchte ohne Widerspruch.
Herr Rosenberg fühlte sich aber auch an den nächsten Tagen nicht besonders wohl, er war müde, hatte keinen Appetit, nicht einmal das Bier schmeckte ihm. Er schluckte heimlich seine Pillen, schließlich wollte er niemanden beunruhigen. Doch dann wurde Hamilton mitten in der Nacht geweckt, als Isabelle aufgelöst in sein Schlafzimmer stürzte und rief: „Um Himmels willen, stehen Sie auf, stehen Sie auf! Kommen Sie zu meinem Vater – ich fürchte, dass er die Cholera hat. Sie haben schon Cholerakranke gesehen und kennen die Symptome. Oh kommen Sie, wir wissen nicht, was wir tun sollen.“
„Lassen Sie den Arzt holen“, rief Hamilton, „ich komme sofort.“
Als er das Schlafzimmer betrat, saß Isabelle neben Rosenbergs Bett, während seine Frau im Zimmer auf und ab ging.
„Oh Herr Hamilton“, sagte sie, „bitte sagen Sie mir, dass Franz nicht die Cholera hat, und ich werde Ihnen dankbar sein, solange ich lebe. Alle sagen doch, dass die Epidemie so gut wie vorbei ist und dass es nur noch ganz wenige Fälle gibt. Es kann doch auch etwas ganz anderes sein, nicht wahr?“
Aber Hamilton wusste nicht, was Herr Rosenberg hatte und Doktor Berger wusste es auch nicht. Es stand jedoch nicht gut um den Patienten, das war sicher. Zwei Tage lang gingen wieder alle auf Zehenspitzen, flüsterten und hofften – doch vergeblich. Am dritten Tag starb Herr Rosenberg. Hamilton brachte die beiden kleinen Kinder zu ihrer Schwester Sophie, die zwar unablässig weinte, aber keinerlei Anzeichen von Hysterie erkennen ließ. Isabelle saß tränenleer und wie betäubt in ihrem Zimmer, als Hamilton zurückkam. Er bat sie, etwas zu essen und sich dann ins Bett zu legen. Sie sah ihn an, als spreche er in einer unverständlichen Sprache, schließlich sagte sie: „Ich kann nicht glauben, dass er tot ist. Er kann uns doch nicht einfach so verlassen! Gerade jetzt … Ich hätte ihm so vieles noch sagen wollen … Wenn ich ihn doch noch einmal sehen könnte!“
„Daran wird Sie sicher niemand hindern“, sagte Hamilton. „Wenn es ein Trost für Sie ist, werde ich diese Nacht mit Ihnen in seinem Zimmer bleiben.“
„In seinem Zimmer?“, rief sie verzweifelt. „Er ist nicht mehr in seinem Zimmer – man hat ihn in das Leichenhaus gebracht.“
„Das Leichenhaus? Wo ist das?“
„Auf dem Friedhof. Ich glaube, es sind Wächter dort – aber stellen Sie sich vor, er ist vielleicht gar nicht tot und kommt wieder zu sich … ich muss wissen, ob er wirklich tot ist! Wollen Sie mit mir gehen? Lassen Sie mich ihn noch ein letztes Mal sehen!“
„Ich werde mit Ihnen dorthin gehen oder wohin auch immer Sie gehen wollen“, antwortete Hamilton, der von ihrer Trauer völlig überwältigt war.
Es war kalt und unfreundlich, als sie durch den Schneematsch auf den Straßen stapften. Aber Isabelle eilte wortlos vorwärts, bis sie den Friedhof erreicht hatten. Sie gingen auf die Leichenhalle zu, die auf einer Seite völlig verglast war. Erschrocken hielt er sie zurück, denn er hatte in England nie
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