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Die Versuchung

Die Versuchung

Titel: Die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jemima Montgomery
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etwas Ähnliches gesehen. Auf Tischen im Inneren des Gebäudes stand eine Reihe offener Särge; die darin liegenden Toten waren festlich gekleidet wie für einen Feiertag. Ein junger Offizier lag dort in seiner Paradeuniform, ein älterer Herr im schwarzen Anzug, ein junges Mädchen trug ein weißes Kleid und war mit Blumen geschmückt. Auch Rosenberg lag hier. Isabelle stand vor seinem Sarg wie festgewurzelt und bewegte die Lippen wie bei einem stummen Gebet. Hamilton wollte sie nicht stören und wandte sich ab. Er bemerkte, dass eine schwarz gekleidete Gruppe Menschen auf den Friedhof gekommen war, einige trugen Fackeln. Er sprach eine Wärterin an, ob ein Begräbnis stattfinden würde.
    „Ich glaube, die Gräfin Raimund soll heute Abend beerdigt werden“, antwortete sie.
    „Die Gräfin Raimund?“, fragte Hamilton überrascht. „Liegt sie hier?“
    „Ja dort, gleich neben dem Herrn, der an der Cholera gestorben ist, die alte Dame im schwarzen Atlaskleid.“
    „Isabelle“, sagte Hamilton, indem er ihren Arm nahm, „wir müssen jetzt gehen. Es wird ein Begräbnis stattfinden.“
    „Ich weiß es, ich habe es gehört“, sagte sie und ließ sich leicht widerstrebend von ihm mitziehen. „Warten Sie – ich möchte noch zum Grab meiner Mutter.“
    Sie fanden es schnell, denn Isabelle wusste, wo es war. Sie schien zu beten, dann kniete sie neben dem Grabstein nieder und begann mechanisch, die Blätter des Efeukranzes zu ordnen, den sie im November auf das Grab gelegt hatten.
    „Ich weiß nicht, warum ich nichts fühle“, sagte Isabelle schließlich, als sie aufstand. „Ich dachte, ich würde an diesem Ort Schmerz über den Tod meines Vaters fühlen – Sie werden sicher entsetzt sein, wenn ich Ihnen sage, dass ich in Wirklichkeit gar nichts fühle. Ich weiß jetzt, dass mein Vater wirklich tot ist, es gibt keinen Zweifel – ich weiß, dass er bald hier neben meiner Mutter liegen wird – aber ich fühle keinen Schmerz – ich fühle gar nichts.“
    „Es kam so plötzlich. Sie sind noch wie betäubt“, sagte Hamilton.
    „Nein, das glaube ich nicht. Ich bin einfach nur – ruhig. Aber ich würde jetzt am liebsten gehen, laufen, kilometerweit, ohne anzuhalten.“
    „Sie müssten eigentlich völlig erschöpft sein – Sie haben schließlich drei Nächte lang nicht geschlafen und zwei Tage fast nichts gegessen.“
    „Sie haben auch drei Nächte nicht geschlafen und vermutlich auch nicht viel gegessen ...“
    „Ich denke nicht an mich“, sagte Hamilton, „ich denke an Sie. Und wie könnte ich schlafen oder essen, wenn ich weiß, dass es Ihnen schlecht geht?“
    Isabelle atmete schwer und lehnte sich unwillkürlich an seine Schulter. Er hielt sie fest und befürchtete einen Moment, sie könnte wieder ohnmächtig werden. Als er bemerkte, dass sie zitterte, rief er einen der Lohnkutscher vor dem Friedhof herbei und hob sie in die Kutsche. Als sie losfuhren, atmete sie so schwer, dass er die Fenster öffnete. Wenig später ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken, und er spürte eine unendliche Erleichterung, als er merkte, dass Isabelle weinte.
      
    Am nächsten Tag war Madame Rosenberg nahezu ständig von Bekannten und Verwandten umringt. Gegen Abend zog Sophie ihre Schwester beiseite und flüsterte: „Isabelle, Liebste, es ist für uns beide schlimm, aber ich bin jetzt verheiratet – was soll nur aus dir werden? Du wirst sicher an Mademoiselle Hortense schreiben. Sie hat dir ja versprochen, dir eine Stelle als Gouvernante zu besorgen, wenn du es wünschst.“
    „Ich weiß“, sagte Isabelle niedergeschlagen. „Lass uns ein andermal darüber sprechen, ich kann noch nicht klar denken.“
    „Olivia sagt, dass die Mama sicher nicht wünscht, dass du bei ihr bleibst, und der Major … also mein Mann … sagt, dass ...“
    „Sophie!“, rief Isabelle verärgert. „Du kannst mir gerne sagen, was du denkst, aber verschone mich bitte mit den Ansichten von Olivia Berger oder des Majors.“
    „Aber hast du nicht selbst gesagt, dass du ihn für einen vernünftigen Mann hältst?“
    „Ja, das habe ich gesagt und ich glaube es auch. Aber da er sich für nichts interessiert, was mich betrifft, möchte ich auch nicht hören, was er gesagt hat.“
    „Ach, sicher hat Herr Hamilton dir alles erzählt. Das hätte ich mir denken können. Er lächelte so sonderbar, als ich gestern mit ihm darüber gesprochen habe. Natürlich habe ich sofort daran gedacht, dich zu mir zu holen, das war mein erster Gedanke. Aber

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