Die Versuchung
völlig in die Lektüre eines Buches vertieft. Ihr dunkelblaues Kleid mit seinem eng anliegenden Oberteil betonte ihre schlanke Silhouette und ließ sie im Profil sehr elegant wirken, und Hamilton stand in stummer Bewunderung da und drehte zerstreut seine Reitgerte in der Hand, bis sein Blick auf das Buch in ihrer Hand fiel. Er zuckte zusammen, zögerte und ging dann entschlossen zu ihr. Isabelle bemerkte ihn erst, als er direkt vor ihr stand, erschrak, errötete und versteckte das Buch wie ein ertapptes Kind hinter ihrem Rücken.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe“, sagte er mit gezwungenem Lächeln, „aber ich würde gerne einen Blick auf Ihr Buch werfen.“
„Nein, das geht Sie nichts an“, sagte sie, lehnte sich auf dem Sofa zurück und wurde blass, als sie hinzufügte: „Es ist sehr unangenehm, auf diese Weise erschreckt und gestört zu werden. Ich dachte, Sie hätten der Mama gesagt, dass Sie sie im Kaffeehaus treffen werden.“
„Das stimmt, vielleicht werde ich sie auch dort treffen, aber vorher möchte ich gerne Ihr Buch sehen, damit ich weiß, was ich von Ihren Versprechen zu halten habe.“
„Es geht Sie nichts an!“, rief Isabelle.
„Zeigen Sie mir das Buch“, sagte Hamilton und ergriff ihre Hand.
„Lassen Sie mich!“, rief Isabelle und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.
Wie viele ansonsten sehr ausgeglichene Menschen verlor Hamilton die Beherrschung, wenn er aufs Äußerste gereizt wurde. Er hielt ihre rechte Hand wie in einem Schraubstock fest und versuchte, ihr das Buch wegzunehmen, das sie schließlich zu Boden warf. Sekunden später verpasste sie ihm eine derart heftige Ohrfeige, dass er einen Augenblick regelrecht benommen war und sie ungläubig anstarrte.
Dann rief er: „Glauben Sie, ich würde Ihnen erlauben, mich genau so zu behandeln wie Major Stutzenbacher?“ Er zog sie an sich und küsste sie so heftig, dass ihr schwindelig wurde. „Ich habe Sie mehr als ein Mal gewarnt“, sagte er, als er sie losließ. „Ich habe Sie gewarnt, und Sie wussten, was Sie zu erwarten hatten.“
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte. Hamilton setzte sich mit dem Buch in der Hand an den Tisch und sah sie an.
„Sie enttäuschen mich. Aber Sie sind vielleicht auch nicht besser als andere Leute, um Ihre Worte zu gebrauchen, und man kann Ihnen nicht mehr vertrauen als Anderen – dabei hielt ich Sie für nahezu vollkommen. Ich kann alles verzeihen, nur keine Lüge! Alles, aber das nicht! Ja, ich wünschte, ich wäre nicht jetzt schon nach Hause gekommen!“
„Ich – ich hatte nicht die Absicht, dieses Buch zu lesen“, sagte Isabelle leise. „Johann sollte es gestern mit anderen Büchern zurück in die Leihbibliothek bringen, aber er kam zu spät, es war bereits geschlossen, und so brachte er sie wieder mit. Ich habe sie gestern Abend in meinem Zimmer gefunden und gestern nicht darin gelesen. Aber ich gebe zu, dass die Versuchung groß war, als ich heute auf Wunsch meiner Mutter zuhause geblieben bin, weil das Personal heute Ausgang hat. Mir war langweilig und ich wollte wissen, wie die Geschichte ausgeht. Das Buch lag in meinem Zimmer, ich wollte es nicht lesen, aber dann nahm ich es doch ...“
„Vielleicht habe ich Ihnen doch Unrecht getan. Ich sollte meine Meinung ...“
„Ihre Meinung interessiert mich nicht mehr.“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie haben sich eben nicht wie ein Gentleman benommen. Von Ihnen hätte ich ein solches Benehmen niemals erwartet“, sagte Isabelle, während ihr Tränen in die Augen traten. „Ich hätte Sie niemals geohrfeigt, wenn Sie mir nicht weh getan und mich aufs Äußerste gereizt hätten.“
Sie schickte sich an, aus dem Zimmer zu gehen.
„Warten Sie!“, rief Hamilton. „Es mag merkwürdig klingen, aber ich konnte den Gedanken, dass Sie nur etwas weniger vollkommen sind als ich geglaubt habe, nicht ertragen. Ich musste Gewissheit haben, ob ich mich täusche oder nicht. Und auch, wenn es keine Entschuldigung ist für das, was ich dann getan habe, so muss auch ich sagen: Die Versuchung war sehr groß.“
Isabelle presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lächeln.
Dadurch ermutigt, sagte Hamilton leise: „Sie sollen wissen, dass ich Sie geküsst habe, weil ich Sie leidenschaftlich liebe. Obwohl ich Ihnen das nicht sagen müsste, denn Sie werden es schon lange wissen! Isabelle, ich verlange nicht viel, sagen Sie mir nur, dass Sie mich zumindest ein bisschen gern haben.“
Isabelle sah ihn erschrocken an,
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