Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
trug noch seine Socken.
»Ich kann später noch mal wiederkommen.«
»Bleib hier.« Em war barfuß, das Haar zerzaust, und ihre Wangen glänzten rosig. »Ich wollte uns sowieso etwas zu trinken holen.« Sie drängte sich an mir vorbei, und ich hörte, wie der Fernseher im Wohnzimmer wieder anging.
»Es tut mir leid«, murmelte ich beim Eintreten. »Häng doch beim nächsten Mal eine Socke über den Knauf.«
»Gute Idee.« Sein Lächeln verschwand, und er setzte sich auf. »Wir wollten nur die Zeit nutzen, in der wir zusammen sind.«
Seine Worte sollten beiläufig klingen, doch der Schmerz, der von Michael ausging, ähnelte dem, mit dem mein Vater jeden Tag leben musste. Ich absorbierte ihn, bis er meine Brust erfüllte und sich beruhigte.
»Wir werden Jack finden. Er wird weder ihr noch sonst wem jemals wieder wehtun«, versprach ich und meinte es ernst.
»Em hat mir erzählt, was passiert ist und wie du versucht hast, ihren Schmerz in dir aufzunehmen.«
Mein Herz krampfte sich zusammen und geriet kurz ins Stolpern. »Ich dachte mir schon, dass sie’s dir erzählen würde.«
Michael starrte zu Boden und wusste genauso wenig wie ich, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte, war jedoch fest entschlossen, das Gespräch fortzusetzen. »Ich wusste nicht, dass du dazu in der Lage bist.«
»Nun ja, über so was redet man nicht gern.«
»Wissen deine Eltern davon?«
»Mom weiß es. Dad ahnt es, glaube ich. Ich tue es nicht für jeden x-Beliebigen.« Aber Em hatte sich so klein und zerbrechlich in meinen Armen angefühlt. Und sich so bemüht, nicht zu weinen. Ich hatte sie hin und her gewiegt nach ihrem Zusammenbruch und mir gewünscht, sie hätte sich all ihren Schmerz von mir nehmen lassen.
Sie war allein damit fertiggeworden.
»Eines verstehe ich nicht ganz …« Michael hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Nachdem du deine Gabe all die Jahre für dich behalten hast, wieso wolltest du sie bei ihr einsetzen?«
Michaels Gitarre lehnte an seiner Kommode. Jahrelang hatte er versucht, mir ein paar Akkorde beizubringen, doch ich konnte mich immer nur auf drei besinnen. Ich hob das Instrument auf und spielte jeden Akkord zweimal, bevor ich auf die Saiten schlug und den Klang verstummen ließ.
»An dem Morgen, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war ich total verkatert. Weißt du noch?«
Er nickte und wartete gespannt auf meine Antwort.
»Meine Gefühlswelt war weit offen, und … sie … sie ist einfach hereinspaziert.« Ich legte die Hand aufs Herz und erwartete einen Schmerz, der nicht kam. »Sie hat zugehört.«
Vor Em hatte mir schon lange niemand mehr richtig zugehört.
»Sie war vollkommen am Boden zerstört, als sie dich verloren hatte«, sagte ich und dachte daran, wie verzweifelt sie gewesen war. »Genau wie Mom, als Dad im Laboratorium umgekommen war. Sicher weißt du noch, wie schrecklich das gewesen ist.«
»Ich erinnere mich.«
Mom war eine starke Persönlichkeit, aber ein Großteil ihres Lebens hatte sich um Dad gedreht. Nach dem Unglück zog sie sich in sich selbst zurück, und ich ahnte, dass nur ihre Liebe zu mir ihr die Kraft zum Weiterleben gab.
Ich hatte sie im Stich gelassen an dem Morgen, als ich sie bewusstlos im Bad fand. Seitdem war sie nicht mehr zu sich gekommen.
»Ich wollte Em helfen. Es leichter für sie machen.« Ich verstummte und schaute an die Decke. »Mom habe ich nicht geholfen. Ich habe sie all die Traurigkeit allein tragen lassen, statt sie ihr zu nehmen. Ich habe es erst versucht, als sie schon im Koma lag. Da war nichts mehr möglich. Zu spät. Ich konnte nichts bewirken.«
»Em hat gesagt, es hätte dir Schmerzen bereitet, körperliche Schmerzen.«
»Das spielte keine Rolle.« Emotionaler Schmerz war vielschichtig. Wenn man etwas davon nahm, um eine bestimmte Situation leichter zu machen, öffneten sich die Tore zur Vergangenheit, wo sich weitere Emotionen aneinanderreihten. Zog man eine heraus, gerieten alle anderen in Schieflage. Es war schwierig zu entscheiden, wo man den Schnitt machen sollte. Immer fragte man sich, ob man alles getilgt hatte oder ob genug Schmerz blieb, um wie ein Krebsgeschwür alles zu zerstören.
»Hat deine Mom es gewusst? Hätte sie zugelassen, dass du ihren Schmerz auf dich nimmst?«
»Ich hätte darauf bestehen müssen.« Dann wäre sie jetzt hier.
»Keiner wusste, was Jack plante. Ich hätte besser aufpassen sollen, mehr tun müssen, um euch beiden zu helfen«, sagte Michael.
»Du hast genug getan. Du hast
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