Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
Dune gesagt hatte. Sie nahm den Atlas entgegen, ohne mich anzuschauen.
Dune verschränkte die Arme vor der Brust, während Lily den Atlas durchblätterte. Er war schon immer ziemlich kräftig gewesen. Doch jetzt fiel mir auf, dass seine Bizeps deutlicher hervortraten, als ich es in Erinnerung hatte. Dasselbe galt für die Brustmuskeln. Wahrscheinlich hatte er mit Nate trainiert, der ganz besessen davon war, Muskelmasse aufzubauen.
Ich musste auch dringend mal wieder in den Fitnessraum.
»Liam wird nicht begeistert sein, dass wir nach Memphis wollen.« Em sah Michael an. »Es wird sicher nicht leicht, ihn zu überreden.«
»Wir müssen nicht alle fahren.« Michael ließ mal wieder den Chef raushängen. Em nannte es Beschützer-Modus, aber ich brauchte keinen Beschützer. Genauso wenig wie sie.
Em knuffte ihn gegen die Schulter. »Versuch’s erst gar nicht, Michael Weaver. Du wirst mich nicht wieder ausschließen.«
»Genauso wenig wie mich«, sagte ich.
Plötzlich redeten alle durcheinander und diskutierten, wer wann wohin fahren sollte.
Kurz bevor wir uns so richtig in die Haare kriegten, ließ Lily den Atlas fallen und schnappte nach Luft.
Schock. Fassungslosigkeit.
»Was ist los?« Em eilte zu Lily.
Lily hielt sich die Hände vor den Mund. »Die Karte …« Langsam senkte sie die zittrigen Finger. »Ich habe Ivy Springs angetippt, weil ich die Strecke von hier nach Memphis nachziehen wollte.«
»Okay.« Em wartete ab. Die Besorgnis, die von ihr ausging, jagte mir Angst ein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lily zu hysterischen Reaktionen neigte, also musste es um etwas Ernstes gehen.
»Vorhin wollte ich mithilfe meiner Gabe nach Kalebs Piratenschwert suchen.« Lily holte tief Luft. »Wir sind nicht mehr dazu gekommen. Aber jetzt, als ich die Karte berührt habe, konnte ich das Schwert sehen. Ganz genau und mit allen Details. Durch meine Finger hatte ich ein so klares Bild im Kopf, als würde ich Blindenschrift lesen.«
»Wo?«, fragte ich Lily. »Wo war es?«
»Im Garten.« Sie sah mir in die Augen. »In der Feuerstelle, mitten zwischen der Asche.«
»Ich habe versucht, das Schwert zu verbrennen«, sagte ich.
»Das Kostüm auch?«, fragte Lily.
»Ja. Das hat ja auch gebrannt. Ich musste es tun.« Ich wusste nicht, wie ich mein Verhalten erklären sollte, ohne zu erwähnen, dass Poe Em die Kehle durchgeschnitten hatte, und ich hatte keine Ahnung, wie viel Lily darüber wusste. »Es war eine Art … von Befreiung. Aber wie hast du es gefunden?«
»Instinktiv. Ich wusste einfach, dass ich meine Hand auf die Karte legen musste.« Lilys Stimme klang wieder ein wenig kräftiger, auch ihre Wangen hatten wieder etwas mehr Farbe bekommen. »Es war so ein Ziehen. Genau dasselbe, das ich gespürt hab, als Kaleb und ich geübt haben.«
»Hast du schon mal eine ähnliche Erfahrung gemacht?«, fragte Michael besorgt.
»Nein.« Sie hielt die Hände im Abstand von einem Zentimeter über die Karte. Dann zog sie sie zurück und faltete sie im Schoß. »Aber ich habe früher auch nie aktiv nach Sachen gesucht.«
»Ich habe eine Idee«, sagte Dune. »Wir machen einen Test. Emerson, du denkst jetzt an irgendwas von dir, das Lily schon länger nicht mehr gesehen hat. Es sollte an einem Ort sein, auf den Lily nicht so leicht kommt, aber du musst genau wissen, wo es ist.«
Em dachte kurz nach. »Okay. Ich hab mir was ausgedacht.«
Dune beugte sich zu Em herunter, und die beiden unterhielten sich im Flüsterton. Als sie eine Art Übereinkunft getroffen hatten, richtete er sich wieder auf.
»Atlas?«, fragte Dune.
Lily reichte ihn herüber, diesmal mit ernster Miene.
Dune schlug die Doppelseite mit der großen USA -Karte auf. »Okay, Em. Sag ihr, an welche Sache du denkst.«
»Es ist ein Film, My Fair Lady . Den haben wir uns damals in der Mittelstufe immer wieder angesehen«, erklärte sie. »Weil wir wie Audrey Hepburn sein wollten.«
Lily lachte leise vor sich hin. »Wir waren so traurig, weil wir beide kein bisschen Ähnlichkeit mit ihr hatten. Eine mollige Kubanerin und ein dünnes, blasses Mädchen aus Tennessee.«
»Trotzdem haben wir es versucht«, Em lachte ebenfalls, und ich spürte die tiefe Verbundenheit der beiden. »Weißt du noch, wie wir immer mit diesen Hüten herumstolziert sind?«
»Und die Zigaretten in den langen Mundstücken? Deine Mom ist ausgeflippt.«
»Und das Brandloch in der Couch! Das hat sie mir nie verziehen.« Em geriet ins Stocken, Tränen brannten in ihren Augen.
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