Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
und uns netterweise eine Hotelsuite organisierte. Em hatte darauf bestanden, dass wir im Morgengrauen losfuhren, damit wir es rechtzeitig bis zur Uni schafften. So war es noch recht früh, als wir vor dem Verwaltungsgebäude parkten. Die Bennett-Universität befand sich am östlichen Stadtrand von Memphis und umfasste ein riesiges, teilweise bewaldetes Gelände.
»Hier kommt man sich vor wie auf dem Land«, meinte Lily, als wir durch das schmiedeeiserne Tor des Unigeländes fuhren.
Der Campus erinnerte eher an ein Märchendorf als an eine Hochschule. Gotische Torbogen, dunkle Baumgruppen, Kopfsteinpflaster. Alles war beherrscht von Grün-, Gold- und Rottönen.
Ich stieg aus und beeilte mich, um Lily die Wagentür aufzuhalten. Nur mit Mühe konnte sie den Blick von der malerischen Szenerie losreißen. »Was soll das denn? Spielst du jetzt den edlen Ritter?«
»Nein. Aber du hast die Hot Tamales.« Ich streckte ihr die Hand entgegen. »Ich brauche einen Kick.«
Sie drückte mir die Schachtel gegen den Bauch. »Hot Tamales. Atomic Fireballs. Sizzling Jelly Bellys. Red Hots. Hast du überhaupt noch Geschmacksnerven? Oder Zähne?«
»Soll ich den üblichen Witz über scharfe Teile machen oder lieber den Mund halten?«
»Mund halten.«
Sie zog eine gepolsterte Segeltuchtasche aus dem Handschuhfach und stieg aus. Nachdem sie den Reißverschluss geöffnet hatte, holte sie ihre Kamera heraus, schraubte die Schutzkappe vom Objektiv und machte ein paar Fotos.
»Sollten wir uns nicht überlegen, wie wir vorgehen wollen?«, fragte ich Em und sah Lily nach.
»Nein, lass sie ruhig«, erwiderte sie. Michael war noch im Auto – bestimmt um meinen Dad über unsere Ankunft zu informieren. »In ein paar Minuten ist der Anfall vorbei.«
»Ist sie immer so?«
»Ja. Sie ist besessen. Es ist wie ein innerer Zwang.«
Obwohl sie noch in Hörweite war, schien Lily nichts von unserem Gespräch mitzubekommen und konzentrierte sich auf ein einzelnes gelbes Blatt am Ende eines Zweigs. Zuerst legte sie sich ins Gras, um ein Bild von unten zu schießen, dann folgte eins von oben, für das sie auf den Baum kletterte.
»Sobald sie irgendetwas entdeckt, das sie fotografieren will, ist sie hin und weg, beugt sich wer weiß wie weit über irgendwelche Dachkanten oder kriecht auf steilen Klippen herum für die perfekte Perspektive. Sie probiert verschiedene Bildausschnitte aus, experimentiert mit Schärfentiefe und Blenden und zieht ihr Ding durch, bis ihr irgendwann wieder einfällt, dass es noch etwas anderes gibt als ihre Fotos.«
»Ist sie gut?«
»Unglaublich.« Em lächelte wie eine stolze Mutter. »Hast du die Bilder im Murphy’s Law gesehen?«
»Die sind von ihr? Das sind ja richtige Meisterwerke!«
»Ja, das sind sie.«
Nach einer Weile kam Lily zu uns zurück, zupfte sich Grashalme und Blätter aus den Haaren und grinste über das ganze Gesicht. Ihre Freude war ansteckend, denn ich musste ebenfalls lächeln.
»Ich kann gar nicht genug hiervon kriegen. All diese Bogen und Pfeiler und Schatten. Ich wünschte, ich hätte schon eher von diesem Ort gewusst.« Sie schob die Kamera zurück in die Tasche, holte eine Mandarine heraus und sah Em entschuldigend an. »Tut mir leid. Du weißt ja, wie ich mich immer mitreißen lasse.«
»Und deshalb lieben wir dich«, sagte Em.
»Geht’s dir gut?«, wollte Michael wissen, während er die Wagentür zuschlug und sich zu Em gesellte, um ihr Schultern und Nacken zu massieren. »Warum hast du mich nicht ein Stück fahren lassen?«
»Das Fahren hat mich ein bisschen von dem abgelenkt, was wir vorhaben.« Sie entspannte sich unter seinen Berührungen.
»Können wir den Plan noch einmal durchgehen?« Lily warf die in einer perfekten Spirale abgepellte Mandarinenschale in den Wald. Die Ruhe, die sie im Auto bewahrt hatte, war verschwunden. »Bleibt’s dabei, dass wir immer noch zuerst nach Informationen über Jack suchen wollen statt nach Jack selbst?«
»Weißt du immer noch, wo er ist?«, fragte Em, und auch ihre Stimme klang wieder zunehmend angespannter. »Oder wo sich seine Taschenuhr befindet?«
Lily schob sich einen Mandarinenscheibe in den Mund und nickte. Sie hatte während der ganzen Fahrt den Atlas auf dem Schoß gehalten und immer wieder die Seite mit der Karte von Memphis aufgeschlagen. »Am Fluss. Sobald wir in die Nähe kommen, werde ich, glaube ich, genau wissen, wo wir ihn finden.«
»Lily und ich gehen zur Verwaltung und versuchen, Jacks Akten aufzutreiben.« Michael
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