Die Versuchung der Zeit: Hourglass 2 - Roman (German Edition)
sie nur noch wütender.
»Darf ich nicht?« Sie blieb stehen und stieß mir den Zeigefinger gegen die Brust, während ihre Augen sich zu Schlitzen verengten. »Du kennst mich nicht. Du weißt gar nichts über mich. Du kannst dir kein Urteil erlauben, was ich persönlich nehmen darf und was nicht.«
Ich trat einen Schritt zurück, um ihrem Finger auszuweichen. »Du hast dir doch auch ein Urteil über Macy und mich erlaubt und dazu keine zwei Sekunden gebraucht.«
»Das war nur eine Feststellung von Tatsachen.« Jetzt hatte sie die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich weiß doch, wie ein Aufriss aussieht.«
»Das war kein Aufriss. Wir haben uns nur unterhalten. Ich war letzten Sommer öfter mit Macy unterwegs. Wir sind Freunde.«
»Wie ist ihr Nachname?«
Ich blinzelte. »Wie bitte?«
»Wie sie mit Nachnamen heißt, will ich wissen.«
»Ich … äh …« Ich hatte plötzlich einen trockenen Mund. »Ich hab’s auf der Zunge.«
»Hm.« Lily drehte sich um und setzte ihren Weg zum Murphy’s Law fort.
»Warte …«
»Nein!«, brüllte sie mir über die Schulter zu, ohne mich anzusehen. »Geh zurück in dein vornehmes Haus und schau in deinem Adressbuch nach. Wenn sie gut war, hast du ihre Nummer sicher irgendwo notiert. Ich such mir dann einen anderen Sozialhelfer.«
Wieder spürte ich, dass sie sich verletzt fühlte. Gleichzeitig nahm ich eine Spur von Neid oder Eifersucht wahr. Es konnte nicht an dem Mädchen liegen, also lag es an … meinem Zuhause. Ich hatte sie als Sozialfall bezeichnet, hatte es aber gar nicht so gemeint.
»Hey.« Diesmal griff ich nach ihrem Arm und drehte sie herum. »Ich hab nicht viel Geld.«
Lilys Lachen klang sarkastisch. »Das mag sein. Aber deine Familie hat Geld. Du musst nur noch ein paar Jahre warten, bis du an deinen Trustfonds kommst.«
»Das stimmt nicht.«
»Ach so! Dann kommst du also schon mit achtzehn an das Geld«, sagte sie gehässig. »Gratuliere.«
»Hör zu.« Verärgerung wandelte sich langsam in Zorn. »Ich habe dir erzählt, dass unser Haus schon seit Generationen im Besitz meiner Familie ist. Wir haben es nicht gekauft. Ja, mein Dad hat es geerbt, aber nur das Haus und nicht das Geld, um es instand zu halten. Und das kostet uns eine Menge.«
»Na und? Dann dreht deine Mom einen Film und sackt fünf Millionen Dollar ein. Allein der Name Grace Walker bringt mindestens so viel.«
»Ja, ja.« Ich wusste nicht, wieso, aber mit einem Mal überkam mich das Bedürfnis, Lily die Wahrheit zu sagen. Alles rauszulassen und nichts mehr zu verbergen. »Aber das hilft uns im Moment nicht. Meine Mom liegt im Koma.«
Sie schnappte nach Luft.
»Die Medien wissen nichts davon. Ich glaube zwar nicht, dass du irgendwas ausplaudern würdest, aber wir … haben es bislang geheim gehalten. Die Leute denken wahrscheinlich, sie ist irgendwo in den Tropen, schlürft Piña Colada und unterzieht sich einem Ganzkörper-Lifting.« Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Wut verschwand – die Wut auf die Situation und die Wut auf mich selbst, weil ich Lily von unseren Problemen erzählt hatte.
»Wie lange?«, fragte sie.
Ich öffnete die Augen, um ihre Gesichtszüge zu studieren. Ich spürte kein Mitleid bei ihr, weder in ihrem Blick noch in ihrer Stimme. Da war nichts anderes als Empathie. Und dafür war ich doch eigentlich zuständig. »Fast acht Monate.«
Sie nahm meine Hand und zog mich auf eine der Bänke an der Main Street. »Setz dich hin. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Aber setz dich einfach.«
Wir nahmen beide auf der Bank Platz. Nachdem ich mich ihr geöffnet hatte, war es, als könnte ich nicht mehr aufhören. Ich redete immer weiter, obwohl ich wusste, ich hätte lieber den Mund halten sollen. »Es passierte, kurz nachdem Dad gestorben war. Es war kein Unfall oder etwas in der Art. Wir wissen nicht, was mit ihr los ist. Nicht genau.«
»Wie meinst du das?«
»Eines Morgens ist sie nicht nach unten gekommen, also bin ich rauf in ihr Zimmer, um sie zu holen. Sie war im Bad. Auf dem Fußboden. Da waren … Tabletten. Sie lagen überall verstreut.« Ich seufzte und verdrängte den schrecklichen Anblick. Verdrängte Furcht und Schmerz. »Meine Mom rührt sonst nicht mal Alkohol an.«
Lily sagte nichts. Besser hätte sie in diesem Moment nicht reagieren können.
Wir saßen eine Weile schweigend da, während ich darüber nachdachte, wie ich ihr alles erklären sollte und wie viel mir daran lag, dass sie Bescheid wusste. »Jack hat Emerson gesagt, er
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