Die Versuchung
nicht identifiziert. LuAnn las schnell weiter. Dann stockte sie, als sie auf ihren Namen stieß. Die Polizei suchte nach ihr, obwohl in der Zeitung nichts davon stand, daß man sie irgendeines Verbrechens beschuldigte. Doch ihr plötzliches Verschwinden hatte das Mißtrauen der Polizei wahrscheinlich erhöht. Es versetzte LuAnn einen Stich, als sie las, daß ausgerechnet Shirley Watson die Leichen entdeckt hatte. Überdies hatte man im Wohnwagen einen Kanister mit Batteriesäure gefunden.
LuAnns Augen wurden schmal. Batteriesäure. Shirley war zurückgekommen, um sich zu rächen, und hatte die Säure mitgebracht. Klarer Fall. Doch LuAnn bezweifelte, daß die Polizei sich mit einer Tat befaßte, die nie verübt wurde, wenn sie alle Hände voll damit zu tun hatte, mindestens zwei Verbrechen aufzuklären, die tatsächlich begangen worden waren.
LuAnn starrte noch immer schockiert auf die Zeitung, als es wieder an der Tür klopfte. Erschrocken zuckte sie zusammen.
»LuAnn?«
Sie holte tief Luft. »Charlie?«
»Wer sonst?«
»Einen Moment.« LuAnn sprang auf, riß den Artikel heraus und stopfte ihn in die Tasche. Den Brief und die Zeitung schob sie unter die Couch.
Sie schloß die Tür auf. Charlie trat ein und legte den Mantel ab. »Blöde Idee von mir, daß ich bei den vielen Leuten auf der Straße jemanden entdecken könnte.« Er zog eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie an. Dabei blickte er nachdenklich durchs Fenster. »Aber ich werde trotzdem das Gefühl nicht los, daß jemand uns beschattet hat.«
»Vielleicht wollte uns jemand ausrauben, Charlie. Das geschieht hier doch oft, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Gauner sind in letzter Zeit immer dreister geworden. Aber bei ’nem Raub hätten sie uns eins über den Schädel gehauen und wären abgeschwirrt. Handtasche grapschen und weg. Keiner zieht inmitten von einer Million Menschen eine Kanone und brüllt: ›Hände hoch!‹ Ich hatte aber das deutliche Gefühl, daß jemand uns eine Zeitlang beobachtet hat.« Er drehte sich um und musterte LuAnn. »Ist Ihnen irgendwas Ungewöhnliches passiert?«
LuAnn schüttelte den Kopf und schaute ihn mit großen Augen an, weil sie Angst hatte, etwas zu sagen.
»Ist Ihnen jemand aufgefallen, der Ihnen nach New York gefolgt ist?«
»Ich habe niemanden gesehen, Charlie. Ich schwör’s.« LuAnn fing an zu zittern. »Ich habe Angst.«
Er legte den Arm um sie. »He, halb so wild. Wahrscheinlich leidet der alte Charlie unter Verfolgungswahn. Warum gehen wir nicht noch ein bißchen einkaufen? Dann fühlen Sie sich gleich besser.«
LuAnn befingerte nervös den Zeitungsartikel in der Tasche. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Doch als sie Charlie anschaute, war ihr Gesicht ruhig. Sie lächelte hinreißend. »Wissen Sie, was ich wirklich gern tun würde?«
»Was? Sagen Sie’s. Ihr Wunsch ist mir Befehl.«
»Ich möchte zum Friseur gehen und vielleicht zur Maniküre. Ich sehe schrecklich aus. So möchte ich mich bei dieser Pressekonferenz nicht sehen lassen, vor Millionen von Zuschauern im ganzen Land.«
»Verflixt, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Gut, suchen wir uns den schicksten Salon im Telefonbuch heraus und …«
»Unten in der Lobby ist einer«, unterbrach LuAnn ihn hastig. »Hab’s beim Reinkommen gesehen. Die machen einem die Haare, Hände, Füße. Sogar ’ne Schönheitsmaske. Der Laden sah toll aus. Wirklich toll.«
»Okay, warum nicht?«
»Könnten Sie auf Lisa aufpassen?«
»Wir kommen mit und warten, bis Sie fertig sind.«
»Oh, Charlie. Sie haben wirklich keine Ahnung.«
»Wieso? Was hab’ ich denn gesagt?«
»Männer gehen nicht mit zum Friseur und schauen zu. Wir Frauen haben unsere kleinen Geheimnisse. Wenn ihr Männer wüßtet, wie mühsam es ist, uns hübsch zu machen, wäre der ganze Reiz futsch. Aber Sie könnten etwas für mich tun.«
»Und was?«
»Sie könnten mir sagen, wie schön ich aussehe, wenn ich wiederkomme.«
Charlie grinste. »Ich glaube, das schaffe ich.«
»Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Vielleicht komme ich nicht sofort dran. Im Kühlschrank ist eine Flasche für Lisa, wenn sie Hunger bekommt. Wahrscheinlich will sie auch noch ein bißchen spielen. Anschließend können Sie sie schlafen legen.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich habe nichts vor. Ein Bier und Fernsehen und die Gesellschaft dieser kleinen Dame, und ich bin wunschlos glücklich.« Er nahm Lisa auf den Arm.
LuAnn griff zum Mantel.
»Wozu brauchen Sie den Mantel?«
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