Die Versuchung
sie nun dringend brauchte: moralische Unterstützung. Doch das kam nicht in Frage. Er mußte im Hintergrund bleiben. Es gehörte nicht zu seiner Tätigkeitsbeschreibung, Verdacht zu erregen.
Nach der Pressekonferenz war er mit LuAnn verabredet. Dann würde er ihr seine Entscheidung mitteilen müssen, ob er sie begleitete oder nicht. Das Problem war, daß Charlie sich noch nicht zu einer Entscheidung durchgerungen hatte.
Er schob die Hand in die Tasche, um eine Zigarette herauszuholen. Dann fiel ihm ein, daß im Gebäude Rauchverbot herrschte. Doch er gierte nach der nervenberuhigenden Wirkung des Nikotins. Einen Augenblick überlegte er, ob er rasch hinausgehen und eine Zigarette rauchen sollte, doch die Zeit reichte nicht mehr.
Er seufzte und ließ die breiten Schultern sinken. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er damit verbracht, von einem Ort zum anderen zu reisen, ohne einen umfassenden Plan, ohne irgend etwas, das langfristigen Zielen auch nur annähernd gleichkam. Er mochte Kinder, würde aber nie ein eigenes haben. Er wurde gut bezahlt und führte ein finanziell sorgenfreies Leben, doch inneres Glück konnte man sich für kein Geld der Welt kaufen.
Charlie seufzte. Er war jetzt in dem Alter, wo sich für ihn nicht mehr viel ändern würde. Die Weichen, die er als junger Mann gestellt hatte, bestimmten ziemlich genau die Bahnen, in denen die restlichen Jahre seines Lebens verlaufen würden. Jedenfalls war es bis vor kurzem so gewesen. LuAnn Tyler hatte ihm einen Ausweg vorgeschlagen. Charlie gab sich keinen Illusionen hin, daß LuAnn sexuell interessiert an ihm war, und im kalten Licht der Realität – fern ihrer schlichten und dennoch unglaublich verführerischen Präsenz – war Charlie zu der Einsicht gelangt, daß es ihm so auch lieber war. Er wünschte sich LuAnns aufrichtige Freundschaft, ihre Warmherzigkeit – Eigenschaften, die er in seinem bisherigen Leben schmerzlich vermißt hatte.
Das brachte Charlie zurück zu der Frage, ob er LuAnn begleiten sollte oder nicht. Falls er es tat, würde er mit LuAnn und Lisa zweifellos sehr glücklich leben; darüber hinaus konnte er für das kleine Mädchen die Vaterstelle einnehmen. Jedenfalls für ein paar Jahre. Trotzdem hatte Charlie die ganze Nacht wach gelegen und sich den Kopf darüber zerbrochen, was nach diesen paar Jahren geschehen würde.
Es war unausweichlich, daß die schöne LuAnn, mit ihrem neu erworbenen Reichtum und der gehobeneren Lebensart, die sie sich nach und nach aneignen würde, irgendwann das Ziel Dutzender der gefragtesten Männer der Welt war. Und sie war jung, hatte ein Kind und würde sich weitere Kinder wünschen. Sie würde einen dieser Männer heiraten. Und dann würde er bei Lisa die Vaterstelle übernehmen, und das mit gutem Recht. Er würde der Mann in LuAnns Leben sein. Und wo stand Charlie dann?
Er schob sich zwischen zwei CNN -Kameraleute, während er über diese Frage nachdachte. Vermutlich würde er LuAnn und Lisa dann verlassen müssen. Nein, die Situation wäre zu problematisch. Schließlich war er kein Familienangehöriger. Und wenn erst die Trennung kam, würde sie sehr schmerzhaft für ihn sein. Viel schmerzhafter als die Schläge, die er in seiner Jugend als lebender Sandsack beim Boxen hatte einstecken müssen.
Schon jetzt, nach den wenigen Tagen, die er mit LuAnn und Lisa verbracht hatte, spürte Charlie eine innere Bindung zu den beiden, die er in zehn Jahren Ehe mit seiner Exfrau nie erreicht hatte. Wie würde es erst nach drei oder vier Jahren gemeinsamen Lebens sein? Konnte er sich dann ohne weiteres von Lisa und ihrer Mutter lösen, ohne daß sein Herz irreparablen Schaden nahm, ohne eine völlig geschundene Seele?
Charlie schüttelte den Kopf. Was war er doch für ein knallharter Bursche! Kaum hatte er dieses einfache Mädchen aus den Südstaaten kennengelernt, mußte er sich mit einer lebenswichtigen Entscheidung herumplagen, deren Auswirkungen viele Jahre in die Zukunft reichten.
Ein Teil von ihm riet: Fahr mit ihr und genieße dein Leben, nächstes Jahr schon könntest du an einem Herzinfarkt sterben. Zum Teufel mit den blöden Bedenken! Doch Charlie befürchtete, daß der andere Teil seines Selbst siegen würde. Er war sicher, LuAnn für den Rest seines Lebens ein guter Freund sein zu können – aber würde er das auch schaffen, wenn er jeden Tag bei ihr war und wußte, daß alles unvermittelt enden konnte?
»Scheiße«, fluchte er leise. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er zugeben,
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