Die Versuchung
daß er von Neid beherrscht wurde, von Eifersucht. Ja, wenn er zwanzig Jahre jünger wäre … na ja … dreißig. Doch er war jetzt schon neidisch auf den Kerl, der LuAnn irgendwann bekommen und ihre Liebe erringen würde. Eine Liebe, die ewig währte, da war Charlie ganz sicher, zumindest von LuAnns Seite aus. Und der Himmel sei dem armen Kerl gnädig, der sie betrog. LuAnn war eine Wildkatze, das war nicht zu übersehen. Eine Feuerwerksrakete mit einem Herzen aus purem Gold, aber genau das machte sie so attraktiv: Totale Gegensätze in derselben dünnen Schale aus Haut und Knochen und äußerst empfindlichen Nervenenden waren ein seltener Fund.
Charlie beendete unvermittelt seine Grübeleien und blickte zur Bühne. Atemlose Spannung schien alle Anwesenden gleichzeitig zu ergreifen, wie ein Bizeps, der durch Kontraktion einen Muskelberg bildet. Dann klickten die Kameras los, als LuAnn ruhig, beinahe königlich, in Sicht kam. Anmutig schritt sie nach vorn und blieb vor der Menge stehen. Charlie schüttelte in stummem Staunen den Kopf. »Verdammt«, sagte er leise. LuAnn hatte ihm die Entscheidung soeben noch schwerer gemacht.
Sheriff Roy Waymer spuckte beinahe das Bier durchs Zimmer, als er sah, wie LuAnn Tyler ihm aus dem Fernseher zuwinkte. »Jesus, Maria und Josef! Doris!« Er blickte zu seiner Frau hinüber, deren Blicke sich in den Bildschirm bohrten.
»Du suchst sie im ganzen County, und sie ist in New York City«, rief Doris. »So ’ne Unverschämtheit! Und dann gewinnt das Luder noch so viel Geld!« Voller Bitterkeit rang Doris die Hände und dachte an die vierundzwanzig zerrissenen Lotterielose, die im Mülleimer auf dem Hof lagen.
Waymer hievte seinen massigen Körper aus dem Fernsehsessel und ging zum Telefon. »Ich habe alle Bahnhöfe in der Umgebung und den Flughafen in Atlanta angerufen, aber bis jetzt noch keine Meldung bekommen. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß LuAnn nach New York abhauen würde. Deshalb hab’ ich noch keinen Fahndungsbrief ausgestellt. Ich hätte nie im Leben gedacht, daß die Kleine es schafft, aus dem County rauszukommen, ganz zu schweigen aus Georgia. Das Mädel hat ja nicht mal ein Auto. Und sie hat das Baby am Hals. Ich war todsicher, daß sie bei einer Freundin untergeschlüpft ist.«
»Wie es aussieht, ist sie dir entwischt.« Doris zeigte auf LuAnn im Fernseher. »Aber eins muß man ihr lassen. Gut sieht sie aus!«
»Tja, Mutter«, sagte Waymer zu seiner Frau, »wir haben hier unten nicht gerade so viele Leute wie das FBI . Und Freddie ist wegen seines Rückenleidens ausgefallen. Ich hab’ nur zwei Beamte in Uniform. Und die Staatspolizei steckt bis zum Hals in Arbeit. Die können keinen Mann entbehren.« Er griff zum Telefon.
Doris schaute ihn besorgt an. »Glaubst du, LuAnn hat Duane und den anderen Kerl umgebracht?«
Waymer hielt den Hörer ans Ohr und zuckte mit den Schultern. »LuAnn könnte die meisten Männer, die ich kenne, zum Krüppel schlagen. Allen voran Duane. Aber der andere Kerl war ein Muskelberg, fast zweieinhalb Zentner.« Er drückte auf die Tasten. »Aber LuAnn hätte sich von hinten anschleichen und ihm das Telefon über den Schädel schlagen können. Jedenfalls war sie in irgendeine Schlägerei verwickelt. Mehrere Leute haben sie an dem Tag mit einem Pflaster am Kinn gesehen.«
»Auf alle Fälle ist es um Drogen gegangen«, erklärte Doris. »Das arme kleine Baby in dem Wohnwagen – inmitten von Rauschgift.«
Waymer nickte. »Ich weiß.«
»Ich wette, LuAnn war der Kopf bei diesen krummen Geschäften. Sie ist schlau, das wissen wir ja alle. Sie war schon immer zu gescheit für uns. Sie hat versucht, ihre Schlauheit zu verbergen, aber wir haben es trotzdem gemerkt. Sie gehörte nie hierher zu uns. Deshalb wollte sie ja von hier weg, hatte aber keine Möglichkeit. Das Drogengeld war ihre Chance. Ich sag’s dir, Roy.«
»Mag sein, Mutter. Aber jetzt braucht sie kein Drogengeld mehr.« Er wies mit einem Kopfnicken auf den Fernseher.
»Dann solltest du dich beeilen, sonst ist sie weg.«
»Ich werde die Kollegen in New York anrufen, damit die das Weibsstück festnehmen.«
»Meinst du, die tun das?«
»Mutter, LuAnn ist die mutmaßliche Täterin bei einem Doppelmord«, erklärte Waymer wichtigtuerisch. »Und selbst wenn sie kein Verbrechen begangen hat, ist sie wahrscheinlich eine Hauptzeugin.«
»Ja, aber glaubst du, daß die Yankee-Polizei sich droben in New York dafür interessiert?«
»Polizei ist Polizei, Doris. Im
Weitere Kostenlose Bücher