Die Verwandlung - Blutsbande 1
zurück.“ Nathan drückte noch einmal meine Hand.
Eine Träne rollte über meine Wange und fiel auf seinen Handrücken, wo sie auf seiner kalten Haut sofort gefror. Warum musste ich weinen? Ich wollte doch aus diesem Haus weg, oder? „Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, ihn zu verlassen, Nathan.“ Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. „Wenn ich ihn nicht sehe, dann vermisse ich ihn nicht, aber wenn ich bei ihm bin … habe ich das Gefühl, dass er mich braucht. Wahrscheinlich kannst du das nicht verstehen, aber ich mag das Gefühl, gebraucht zu werden.“
„Das ist doch ganz logisch. Warum wärest du sonst Ärztin geworden?“
Als Nathan das sagte, musste ich an die Situation denken, als ich neben Dr. Fuller in dem kalten weißen Umkleideraum gesessen hatte. Die Stimme meines Ausbilders klang wie eine Grabesglocke in meinen Ohren.
„Warum wollten Sie Ärztin werden?“
Ich dachte, ich wollte Macht haben. Nun hatte ich diese Macht, aber ich wollte sie nicht einsetzen. Hatte Nathan etwa recht? Hatte ich Medizin studiert, weil ich gebraucht werden wollte, und nicht etwa, weil ich machthungrig und kontrollsüchtig war? Weil ich wollte, dass mich komplett fremde Menschen schätzten? Fühlte ich mich nur wohl, wenn andere Menschen mich brauchten?
Das Nervigste an dieser Feststellung war, dass ich nicht selbst darauf gekommen war, sondern jemand anderes. Ich war wohl die naivste Neunundzwanzigjährige auf diesem Planeten.
„Carrie, geht es dir gut?“
Ich sah Nathan an. „Ich will hier weg.“
Er neigte seinen Kopf. „Meinst du es ernst?“
Solche Dinge wie ein Dach über dem Kopf und regelmäßige Mahlzeiten hinter mir zu lassen, sollten mich nachdenklich machen, aber ich hatte keine Angst. Auch als meine Eltern gestorben waren, hatte ich allein überleben können. Nur jetzt bestand der Unterschied darin, dass ich eine Waise sein wollte.
„Ja“, sagte ich überzeugt. „Außerdem würdest du auch hier wegwollen, wenn du die Fensterdekoration hier drinnen sehen würdest.“
Nathan hielt immer noch meine Hand, als er mich zum Gitter zog und mich durch die Stäbe hindurch umarmte. Er war ungeschickt, und da die Pforte zwischen uns war, tat es weh. Als er einen Schritt zurücktrat, waren seine Wangen zart rosafarben.
So, Vampire werden also auch rot.
„ Hier ist der Plan“, sagte er und räusperte sich. „Wenn wir hereinkommen, leg’ dich flach auf den Boden und wehre dich nicht, wenn dich jemand anfasst. Versuche, so nah wie möglich bei Ziggy zu bleiben. Ihm werden sie nichts antun. Und bleibe um Himmels willen weg von Cyrus, um ihn geht es schließlich bei der ganzen Sache. Er ist unser Hauptziel. Mach einfach keine Dummheiten.“
Nach der Vision, die ich gehabt hatte, wusste ich, dass er eine Rechnung zu begleichen hatte. Gut, dass er nicht wusste, was Cyrus mit Ziggy angestellt hatte.
„Ich glaube, dafür ist es zu spät.“ Die Art und Weise wie mich Nathan ansah, machte deutlich, dass er die schlimme Wahrheit kannte. Aber schon im nächsten Augenblick wandelte sich sein Gesichtsausdruck. Nathan griff in seine Tasche und zog ein winziges Fläschchen hervor. „Nimm das.“
Ohne nachzudenken, nahm ich es und versteckte es in meinem BH. „Was ist das?“
„Geweihtes Wasser.“
Ich fummelte herum und zog es wieder hervor. „Gott im Himmel, du hättest mich warnen können!“
Er lachte. „Tut mir leid, ich konnte ja nicht ahnen, dass du es dir gleich unters Hemd schiebst.“
„Was mache ich damit?“, frage ich und betrachtete die Flasche.
„Sei vorsichtig damit. Es verursacht schlimme Verbrennungen. Aber du kannst es benutzen, um dich zu verteidigen.“
Um ihn zu beruhigen, schüttelte ich den Kopf. „Ich werde es nicht brauchen. Cyrus ignoriert mich schon die ganze Zeit.“ Mir wurde klar, dass sich das womöglich zickig angehört haben könnte, also fügte ich hinzu: „Nicht, das es mir etwas ausmachen würde.“
„Es macht dir sehr wohl etwas aus“, sagte Nathan leise. „Und deshalb hat er dich nicht verdient.“
„Nathan …“
Aber er unterbrach mich. „Ich muss weg. Merke dir, was ich gesagt habe, und schaue dir noch einmal die Pläne an. Ich seh’ dich am Samstag.“ Er drehte sich um, ging ein paar Schritte und hielt an. Dann wandte er sich noch einmal zu mir um, sah mich aber nicht an. „Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.“
Ich kannte Nathan gut genug, um zu wissen, dass sein Akzent stärker wurde, wenn ihm etwas nahe ging. Die
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