Die Verwandlung - Blutsbande 1
ist, und ich das Gefühl habe, dass noch Zeit genug bleibt, darüber nachzudenken.“
Aus seinem Tonfall wurde deutlich, dass ich von ihm zu diesem Thema nicht mehr erfahren würde. „Wo kommst du eigentlich her?“
„Von überall.“ Er nahm noch einen Schluck Scotch. „Ich bin in Schottland geboren und habe dort gelebt bis …“ Er sprach nicht weiter. „Dann bin ich 1937 nach Brasilien ausgewandert. Dort wurde ich verwandelt.“
„Oh?“ Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
„Von da aus bin ich nach London gegangen, dann nach Kanada, als der Krieg ausbrach …“
„Du bist ein Fahnenflüchtiger?“, unterbrach ich ihn.
„Nein.“ Er hob eine Augenbraue. „Es war der Zweite Weltkrieg. Jedenfalls bin ich dann hier gelandet.“
„Dann bist du weit herumgekommen.“ Ich fragte mich, ob ich in Zukunft auch so häufig die Länder wechseln würde. Diese Idee reizte mich nicht sonderlich.
Er seufzte. „So ist das eben. Wenn du zu lange an ein und demselben Ort wohnst und du nicht älter wirst, dann schöpfen die Leute Verdacht. Glaub mir, es ist eine wirklich lästige Arbeit, jedes Mal eine neue Sozialversicherungsnummer und eine neue Geburtsurkunde zu bekommen.“
Ich imitierte den Dialekt aus den Südstaaten: „Besonders wenn du nicht von hier bist.“
Er lachte in sich hinein, dann imitierte er den Dialekt aus dem Mittleren Westen ziemlich treffend: „Keine Ahnung, über wen du redest. Ich wurde 1971 in Gary, Indiana geboren.“
„Aber mal im Ernst, wie machst du das?“ Ich nahm noch ein Schlückchen Scotch.
Er lehnte sich zurück und legte seinen langen Arm über die Sofalehne hinter meinen Rücken. „Es ist nicht so schwer, besonders nicht in einer Kleinstadt wie hier. Es gibt genügend Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung, und deshalb gibt es ebenso viele Leute, die dir gefälschte Papiere besorgen können. Es geht nur darum, gute Kontakte zu haben. Sobald du deine Geburtsurkunde und deinen Personalausweis hast, gehst du in die richtige Behörde und sagst: ‚Ich habe meinen Führerschein verloren.‘“
Den letzten Satz sprach er wieder in dem Dialekt des Mittleren Westens. Ich verzog mein Gesicht. „Lass das.“
„Was?“ Er hob seinen Arm ein wenig an.
„Deinen Akzent. Den mag ich.“
Nathan sah mich an, als habe er mich nie zuvor gesehen. Aufmerksam betrachtete er mich, aber ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging.
„Vorhin im Buchladen … wenn ich dich da geküsst hätte, hättest du mich geküsst?“ Seine Stimme klang tiefer als sonst und war rau vom Alkohol.
Mein Mund wurde trocken. Ich nahm noch einen Schluck Scotch, aber das half auch nicht. „Ich weiß es nicht.“
„Und wenn ich es jetzt täte?“
Ich machte ein quäkendes Geräusch.
Er interpretierte es als ein Nein. „Nur einen Kuss, nichts weiter.“
Ich nickte.
Seine Lippen waren weich, aber kalt. Er strich leicht mit ihnen über meinen Mund, und schon spürte ich Schmetterlinge in meinem Bauch, die die Größe von Kampfjets hatten. Ich schloss die Augen. Mir wurde schwindelig, vielleicht vom Scotch, vielleicht aber auch von Nathans Duft, den ich tief einatmete. Wahrscheinlich von beidem.
Ich öffnete leicht meinen Mund. Die Spitze seiner Zunge glitt leicht an meinen Zähnen vorbei. Ich legte meine Arme um ihn, eine Hand blieb auf seinem Nacken liegen, wo ich die kleinen Härchen von ihm spürte. Jedes Mal, wenn ich einatmete, strömte Aufregung in meinen Magen.
Ohne Vorwarnung zog sich Nathan zurück. Ich öffnete die Augen und sah, wie er zur Seite kippte und auf den Boden fiel.
Dahlia stand hinter ihm und schaute verdutzt auf seinen leblosen Körper. Dann lächelte sie zufrieden und hob ihre runden Schultern. „Auch gut, nehme ich an.“
Bevor ich sie fragen konnte, was sie damit meinte, hatte sie in die Hände geklatscht und war verschwunden.
DAS GESCHÄFT
Ich kniete mich neben Nathans bewusstlosen Körper und rollte ihn auf den Rücken. Er atmete, aber nur schwach.
„Mach die Augen auf!“, schrie ich ihn an. Ich hoffte, dass Dahlias Aktion nur vorübergehende Auswirkungen hatte. „Nathan, wach auf verdammt noch mal!“ Seine Augenlider hoben sich ein winziges Stück, und er fing an zu lächeln. Ich seufzte vor Erleichterung.
„Marianne?“, flüsterte er. Seine Augen fielen ihm wieder zu und sein Körper wurde schlaff. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, verwandelte sich meine Erleichterung in Furcht. Ich rief wieder seinen Namen, aber dieses Mal reagierte er
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