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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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bläuliche Lippen.
    »Okay«, sagte Mary, »ich lasse deine Hände nicht los, und du legst dich jetzt ins Wasser und nimmst die Beine hinten hoch. Ich ziehe dich einfach ein bißchen herum.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Doch, das kannst du! Denk an die Fische am Großen Korallenriff. Stell dir vor, du wärst einer von ihnen.«
    »Das waren Marionetten«, erwiderte Pearl. »Sie hingen an Fäden.«
    »Du auch. Ich bin dein Faden.«
    Also legte sich Pearl ins Wasser. Ihre Haare breiteten sich wie Seetang um ihren Kopf aus. Ihre blauen Augen hatten einen verwirrten Ausdruck, als hätte sie gerade eine merkwürdige Nachricht erhalten. Mary lief leicht gebückt rückwärts und zog Pearl hinter sich her.
    Nachdem sie eine Weile am flachen Ende des Beckens ihre Runden gedreht hatten, legte Mary Pearls Hände auf die Stange, griff nach ihren Füßen und ließ sie damit treten. Sie sagte: »Stell dir deine neue Zukunft vor: Surfen, Wasserball!«
    Pearl brachte ein Lächeln zustande. Durch das Treten war ihr wärmer geworden, und sie hatte das Gefühl, daß ein winziger Teil ihrer Angst zum Glasdach emporschwebte und von dort aus auf sie herabschaute.
    »Jetzt führe ich dich wieder wie eben durchs Wasser, doch diesmal werde ich dich kaum ziehen. Du mußt mit deinem Beinschlag selbst vorankommen. Versuche mich zurückzuschieben, stell dir vor, du willst mich wegstoßen.«
    So drehten sie am flachen Ende des Beckens eine Runde nach der anderen. Eine Gruppe Kinder kam herein und sah ihnen neugierig zu: dem jungen Mann, der angezogen ins Wasser ging, und dem Mädchen mit den Haaren einer Meerjungfrau, das nicht schwimmen konnte.
    Nach zwei Stunden waren sie müde, aber glücklich. Der Schwimmunterricht hatte Pearl von dem Brief an Clive abgelenkt, der noch geschrieben werden mußte, und Mary von allem in ihrem Leben außer Pearl. Ihr fiel wieder das Gefühl ein, das sie vor langer Zeit manchmal in Swaithey gehabt hatte – daß sie allein im Dunkeln saß und auf Pearl schaute, die ein Dia war.
    Am Abend dann in Marys Zimmer sagte Pearl: »Ich habe Ostern eine Prüfung. Macht es dir etwas aus, wenn ich ein paar Notizen laut lese?«
    Pearl war in Marys Bett, und Mary lag über dessen Fußende und blickte auf ihre tropfenden Schwimmsachen über dem Gitter vor dem Kamin. »Nein«, antwortete sie.
    Pearl trug einen knallroten Schlafanzug und hatte ihr Haar mit einem weißen Streifen Stoff zurückgebunden.
    Sie fragte: »Weißt du, was Durchleuchten ist?«
    »Nein«, sagte Mary. »Aber laß mich raten. Bedeutet es, daß man etwas, was in der Vergangenheit verborgen war, klar zu erfassen versucht?«
    »Nein. Es ist eine Methode, um mediale und distale Löcher zu entdecken. Nicht so verläßlich wie Röntgen, aber doch recht effektiv. Die Zahnkrone wird von einer sehr hellen Lampe angestrahlt, und dabei wird das Loch als dunkler Schatten sichtbar.«
    »Aha. Ich verstehe.«
    Sie fand durch die Decken hindurch Pearls Fuß und hielt ihn fest. »Erzähl mir von Clive!«
    Pearl legte ihr Notizbuch hin. »Er hat eine schöne Schrift«, sagte sie.
    »Will er dich heiraten?«
    Pearl überhörte dies und meinte: »Was ich wirklich an ihm liebe, ist seine Schrift.«
    Daraufhin schwiegen sie lange, bis Mary sagte: »Das ist eine jener Äußerungen, die zunächst herzlos wirken, doch bei näherem Hinsehen nicht mehr. Denn die Schrift eines Menschen kann wirklich das Schönste – oder Häßlichste – an ihm sein.«
    Pearl sah Mary an und dachte: Ich schreibe den Brief nicht. Noch nicht. Ich versuche mir jetzt nur zu merken, was Mary eben gesagt hat, falls es einmal wichtig wird.
    Dann meinte Pearl: »Was anderes! Hast du je verstanden, was die Ardennenoffensive war?«
    »Ja. Ich habe einen Film darüber gesehen. Mit Robert Culp.«
    »Und?«
    »Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, sie war ein Wendepunkt im Krieg.«
    Später dann, als Mary auf ihren Kissen auf dem Boden am Einschlafen war und das Leben im Lichtschacht zur Ruhe kam, sagte Pearl: »Mary, ich nenne dich von nun an Martin. Das verspreche ich dir. Das jetzt wird das letztemal gewesen sein, daß ich dich Mary genannt habe.«
Damals im Jahre 1939
    Sonny saß allein in der Küche.
    Er überlegte, welcher Tag es wohl war, doch es fiel ihm nicht ein. Er wußte, daß April war. Er wußte lediglich nicht, in welchem Teil vom April die Welt gerade war.
    Wie immer trank er Starkbier, doch ohne jede Freude. Seit einiger Zeit widerte ihn der Biergeschmack sogar an, und dennoch trank er jeden

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