Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
gefiel es, wenn er dabei war und auf uns herumkrabbelte. Sie meinte: ›Hunde sind die einzig treuen Lebewesen in Gottes weiter Welt!‹
    Eines Abends dann – es war inzwischen 1939, und in Europa begann der Krieg – spürte ich, als ich mit Annie im Bett war, wie dieser schreckliche kleine Pixie mir auf den Arsch kletterte. Als ich mich umblickte, um ihn wegzustoßen, sah ich, daß dieses kleine rote Ding, so groß wie eine Bohne, herausgekommen war und daß er damit an mir herummachte.
    Da drehte ich durch. Ich fand das so verdammt widerlich, daß ich nicht einen Augenblick an Annies Gefühle dachte. Ich packte diesen abstoßenden Pixie an der dürren Kehle und würgte ihn mit einer Hand.
    Das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte nur auf Annie wütend sein und von ihr verlangen sollen, den Hund wegzusperren. Ich war aber so zornig, daß ich nicht vernünftig denken konnte. Das kommt vor, nicht wahr? Ich murkste den Hund ab und warf ihn auf den Boden.«
    Estelle brach in Lachen aus. Sie legte den Kopf zurück, schüttelte sich vor Lachen und sagte: »Manchmal ist es doch zum Schreien auf dieser Welt!«
    »Das war weder zum Schreien noch zum Lachen. In Annies Augen war ich ein Mörder. Und auch in meinen, denn in weniger als zwanzig Sekunden hatte ich unsere Beziehung zerstört. Ich habe sie nie wiedergesehen. Ich ging zwar immer noch am Pfandhaus vorbei, aber nie wieder hinein. Irgendwie fühlte ich mich entsetzlich schlecht. Und nach einer Weile dachte ich: Deine Zeit in Memphis ist um, Pete. Sie ist vorbei. Und jetzt kommt der Krieg.«
    Estelle lachte noch immer. Dann hörte sie auf. »Ist es das, was mit Ihnen geschehen ist? Der Krieg?«
    »Ja. Ich kam nach Hause und wurde Soldat. Ich erzählte Ernie nur, daß es ein paar Probleme mit einem Mädchen gegeben habe, und aus den Problemen wurde ein Verbrechen. Ich weiß nicht, wie. Einer muß es dem anderen in Swaithey zugeflüstert haben, so daß es sich veränderte wie bei der Stillen Post.«
    Nachdem Pete mit seiner Geschichte fertig war, machte er einen sehr müden Eindruck. Taumlig vom Trinken und Lachen zog ihn Estelle hoch und führte ihn zum Bett, wo er sich hinlegte. Sie deckte ihn mit einer alten Decke zu, von der er immer behauptete, daß sie sein einziges richtiges Andenken an den amerikanischen Süden sei. Sie und die einhundertundneun Dollar und seine Erinnerungen an die roten Vögel und Bäume.
    Estelle machte sich auf den Heimweg und hörte, wie Sonny nach ihr rief.
Corpus debile
    Gegen Ende seines ersten Jahres am Teviotts wurde Timmy krank.
    Das Krankenzimmer lag im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes, direkt unter dem Dach. Von seinen Fensternaus konnte man das Meer sehen. Es war ein Südzimmer, hell und luftig. Die Gründer des Teviotts waren der Meinung gewesen, daß die meisten Krankheiten durch Verzweiflung verursacht wurden und Licht eine heilsame Wirkung hatte.
    David Tate stieg die enge Treppe zum Krankenzimmer hinauf. In seiner Begleitung war die Oberin, die ihn an Timmys Bett führte. Timmy hatte in seinem Traum gerade Dr. Tates Haaröl gerochen, und als er aufwachte, saß dieser neben seinem Bett auf einem Stuhl und blickte ihn an. Er blinzelte, und David Tate lächelte. Die Oberin richtete ihre gestärkten Manschetten und ließ sie allein.
    Timmy wußte, warum er krank war. Er war krank, weil er mit dem Unterrichtsstoff am Teviotts nicht zurechtkam. Er war krank, weil man am Teviotts Klugheit von ihm erwartete. Er war krank von seinen Anstrengungen, Latein und Hebräisch zu lernen. Die anderen Studenten schienen schon alle gute Wissenschaftler zu sein, doch er war meilenweit davon entfernt, überhaupt ein Wissenschaftler zu sein. Deshalb war er zusammengebrochen. »Zusammengebrochen« war genau der richtige Ausdruck. Am Mittwoch morgen war er aufgestanden und neben seinem Bett zusammengebrochen. Er hatte jemanden aufschreien hören, und das war alles, woran er sich erinnern konnte, als er im Krankenzimmer wieder zu sich kam und überall um ihn herum ein helles Leuchten war.
    Als er David Tate neben sich am Bett sitzen sah, versuchte er sich aufzurichten. Er war heiß und verschwitzt vom Schlaf, und sein Haar war feucht. Dr. Tate sagte: »Bleiben Sie ruhig liegen, Timothy. Bleiben Sie liegen, und ruhen Sie sich aus.«
    Der Arzt hatte einen Virus diagnostiziert. Tate fuhr fort: »Sie haben einen Virus. ›Virus‹ ist doch ein nützliches Wort.«
    Timmy versuchte zu nicken, doch er schien seinen schweren Kopf nicht unter Kontrolle

Weitere Kostenlose Bücher