Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
weg.
    »London ist schrecklich«, sagte er. »In Tennessee ist es nicht so.«
    » Wie ist es denn dort?« fragte ich.
    Walter gestand, daß er das auch nicht so genau wisse, aber über allem würde so ein Glanz liegen. Er begann die Namen der Bäume von Tennessee aufzuzählen: Immergrüne Eiche, Hickory, Judasbaum, Karibische Kiefer, Magnolie...
    Wäre ich Rob oder Tony gewesen, hätte ich ihn an all die Jahre der Sklaverei und Rassentrennung im Süden erinnert, an die Freiheitskämpfer, die mitten auf der Straße getötet worden sind. Doch das hatte keinen Zweck. Wenn man wie Walter fünfunddreißig Jahre in Swaithey gelebt hat, kommt man irgendwann zu der Überzeugung, daß die schlechten Nachrichten aus aller Welt zu dem Zeitpunkt, an dem sie einen erreichen, bereits überholt sind, man also nicht darüber nachzudenken braucht, es sei denn, man ist an Geschichte interessiert. Alles, was einen angeht, ist der Zustand der eigenen Erde: ob sie gut oder voller Steine ist.
    Ich fragte Walter, wo er in Nashville wohnen wolle. Er antwortete, er wisse es nicht und es sei ihm auch egal. Er könne sich nur einen kleinen Raum wie einen Güterwagen vorstellen.
    »Wir haben jetzt 1971, Walter«, erinnerte ich ihn. »Die Zeiten, in denen man in Güterwagen wohnte, sind vorbei, nicht wahr?«
    Er überhörte das und sagte: »Ich hätte gern einen Hund, der immer bei mir ist.«
    Als ich ihn verließ und über die Brücke zurückging, dachte ich: Er hat von nichts eine Ahnung, außer von seinem Gesang. Er begibt sich zu einem Ort seiner Phantasie und wird dort zugrunde gehen.
    Ich fühlte mich sehr müde. Ich kannte Walter Loomis kaum, doch jetzt hatte er sich mit auf die Liste derer gesetzt, die ich, wenn möglich, vor Schaden bewahren mußte.

15. Kapitel
    1972
Durchleuchtung
    Edward Harker inspizierte mit seiner Leuchtlupe ein Holzstück.
    Die neue Kricket-Saison stand bevor. Die Straße draußen war in Frühlingssonne getaucht. Oben konnte er Irene staubsaugen hören. Er dachte daran, wie er versucht hatte, sie beim Verzehr eines Battenbergkuchens hinauszuwerfen und wie seine Gedanken dann in seinem einsamen Frankreichurlaub immer nur bei ihr waren.
    Er ließ den Blick über den Kellerraum wandern. Ohne Selbstmitleid fragte er sich, was Irene wohl mit allem machen würde, wenn er tot war. Er kam zu dem Schluß, daß sie ein wenig aufräumen, ansonsten aber alles unverändert lassen würde, so daß der Raum mit der Zeit Museumscharakter bekäme. Gelegentlich würde Irene die Treppe hinuntergehen, mit verschränkten Armen an der Tür stehenbleiben, sich alles anschauen und an ihn denken. Dann würde sie die Treppe wieder hinaufsteigen, den Wasserkessel auf den Herd stellen oder den Kaktus gießen, und das wäre es dann. Außer daß sie bis dahin auch allmählich alt werden würde.
    Er fuhr mit der Untersuchung der Holzmaserung fort und dachte: Auch in meinem Leben als Nonne habe ich immer konzentriert auf Holz geschaut – auf die Rückseite einer Kirchenbank, auf die Beichtstuhltür.
    Pearl saß im Seminarraum des Colleges und hörte einer Vorlesung über »Karies und Zivilisation« zu. Es war kaum jemand da. Zahnarzthelferin schien nicht gerade ein begehrter Beruf zu sein.
    Pearl schrieb während der ganzen Vorlesung mit, weil man ja nicht immer gleich wissen konnte, was wichtig war und was nicht. Meist vermochte man die Bedeutung einer Sache erst später zu ermessen. Ihr kam der Gedanke, daß es den Leuten, die in Kriegen kämpften, wahrscheinlich genauso erging. Erst später erfuhren sie, welche Schlachten wichtig gewesen waren, und gaben ihnen dann einen Namen. Wie beispielsweise die Amerikaner, die in der Ardennenoffensive gekämpft hatten. Sie wußten nicht, daß sie das taten. Da gab es keinen General, der kam und zu ihnen sagte: »Also, Männer, das ist die Ardennenoffensive. Das wird eine entscheidende Schlacht.« Sie kämpften einfach und starben, oder kämpften und überlebten, und später wurde das, was sie getan hatten, »Ardennenoffensive« genannt und das Wort »entscheidend« hinzugefügt.
    Es war die letzte Unterrichtsstunde an diesem Tag. Pearl schrieb: »Zusammenfassung: Bei primitiver oder sogenannter unzivilisierter Ernährung werden nur rohe und natürliche Lebensmittel gegessen, die gründliches Kauen erfordern. Kauen = zweite Funktion = Reinigen der Zähne (z.B. rohe Möhre, harter Apfel). Primitive Gesellschaften = wenig oder keine Nahrungsmittelrückstände auf den Zähnen. Weniger Karies als in

Weitere Kostenlose Bücher