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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Inzwischen waren insgesamt einhundertundneun Dollar und dreißig Cent nach London gegangen. Er meinte, es könnten mehr versteckt sein, wußte aber nicht, wo er noch nachsehen sollte.
    Pete freute sich immer über Estelles Besuch. Er ließ sie auf seinem einzigen bequemen Stuhl Platz nehmen, schenkte ihr Whisky ein und sagte zu ihr, daß sie ihn immer noch an Ava Gardner erinnere. Hin und wieder streichelte er ihren Arm.
    Doch meistens unterhielt er sich nur mit ihr und spielte ihr Country-music vor.
    »Manchmal möchte ich eine Menge sagen. Ein andermal kein einziges Wort. Es kann sein, daß es am Mond liegt«, erklärte sie.
    Gelegentlich tanzten sie auch. Sie nahmen eine korrekte Tanzhaltung ein, wie altmodische Tänzer, doch dann standen sie einfach schwankend mitten im Bus.
    An jenem Abend, an dem Sonny in die Dunkelheit hinauslief und nach Estelle rief, tanzten sie und Pete. Sie tanzten nach dem Lied Knoxville Girl . Es ging um ein Verbrechen, und ohne es eigentlich zu wollen, sagte Estelle plötzlich: »Es gab da einmal Gerüchte über Sie, Pete, daß Sie in Amerika ein Verbrechen begangen hätten.«
    »Ja.«
    »Und?« fragte sie. »Mir können Sie es doch verraten. 1966 wollte ich auch ein Verbrechen begehen. Ich wollte ein Baby entführen.«
    »Es war nicht so, wie es sich die Leute vorstellten. Weil niemand in Swaithey sich so etwas vorstellen könnte.«
    »Ich kann mir alles, was es auf dieser Welt gibt, vorstellen. Als ich das letztemal im Mountview war, war ich oft mit einem Fluglotsen zusammen. Er trug Gummihandschuhe und machte Zeichen zum Himmel.«
    »Ich würde es eigentlich nicht mal ein Verbrechen nennen«, fuhr Pete fort. »Doch in gewisser Weise habe ich dafür bezahlt. Es war im Jahre 1939.«
    »Erzählen Sie es mir. Dann können wir noch einmal tanzen.« Das Lied war zu Ende, doch die Platte drehte sich weiter.
    Pete hob den Tonarm ab, füllte ihre Whiskygläser aufs neue und sagte: »Es macht jetzt nichts mehr aus, wenn ich es erzähle. Weil ich nicht mehr zum Laden gehöre. Ich hatte aus Respekt vor dem Namen Loomis Stillschweigen bewahrt.«
    Er setzte sich Estelle gegenüber auf einen Stuhl und begann mit seiner Geschichte. Estelle zündete sich eine Zigarette an. Die Petroleumlampe zischte wie ein Wasserstrahl.
    »Es war in Memphis, als ich als Kirchengärtner arbeitete. In einem Schuppen traf ich ein Mädchen.«
    »In einem Schuppen?« fragte Estelle.
    »Nun, so was gibt’s hier nicht. Das ist eine Art kleine Bar, wo Country-music gespielt wird. Man kann dort fast alles: singen, tanzen, pfeifen, sich die Augen ausweinen, klatschen und schreien. Ich fand sie wunderbar.
    Wie auch immer, jedenfalls traf ich dort 1938 ein Mädchen, das Annie hieß. Sie arbeitete für diesen alten Knaben Webster Wills in seinem Pfandhaus. Damals hatte Memphis fast so viele Pfandhäuser wie Sänger.
    Annie war ein reizendes Mädchen. Jung, süß und arm. Sie arbeitete im Hinterzimmer des Ladens, führte Buch über alles, was reinkam und wieder eingelöst wurde. Mit der Zeit kriegte sie alles in die Finger, was nur ein bißchen Wert hatte: Instrumente natürlich, aber auch vieles andere. Briefbeschwerer, Radios, Trauringe, Bürsten und Kämme, Medaillons mit Haarlocken. Ganz gleich, was.
    Sie sah mich in der Bar an. Ich redete auf sie ein, um sie am Sprechen zu hindern. Ich dachte, sie würde sonst sagen, wie häßlich ich sei.
    Sie nahm mich mit zu sich nach Hause, wo sie mit ihrem kleinen Hund Pixie lebte. Er war ein Affenpinscher, etwa sogroß wie ein Eichhörnchen. ›Pete, das ist Pixie‹, stellte sie ihn mir vor und hielt mir seine Pfote zum Schütteln hin. ›Pixie ist den ganzen Tag allein und möchte deshalb nachts bei mir sein. Das macht dir doch hoffentlich nichts aus?‹
    Was sollte ich da schon sagen? Ich sagte nichts. Ich begann das Mädchen zu küssen und hatte nur noch den einen Wunsch, sie ins Bett zu kriegen.«
    Pete trank einen Schluck Whisky und fragte: »Soll ich aufhören? Schockiere ich Sie?«
    »Nein«, antwortete Estelle. »Mich kann nichts schockieren. Wie sah Annie denn aus?«
    »Nun, hübsch und auch wieder nicht hübsch. Wie eine Maus. Graue Augen. Aber reizend an allen wichtigen Stellen. Und so bahnte sich etwas zwischen uns an, und wir trafen uns weiter. Es war auch alles sehr schön. Alles war sehr schön, bis auf den Hund.
    Ich sagte immer: ›Annie, schick den verdammten Hund raus, wenn wir es tun. Oder schließ ihn im Schrank ein.‹ Doch sie kümmerte sich nicht darum. Ihr

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